zum Hauptinhalt
Eine Patientin wird in Narkose versetzt.

© IMAGO

Nach der Narkose: Das Aufwachen wird zu einem Albtraum

Jeder fünfte Patient ist nach einer Operation verwirrt und verstört. Manche halluzinieren, andere sind apathisch. Trotzdem wird das Delir oft nicht erkannt.

„Mein Vater bekam Halluzinationen, schlug um sich und versuchte panisch, sich die Schläuche aus dem Körper zu reißen. Das Pflegepersonal musste ihn ans Bett binden“, erzählt Florian Riese. Als sein 76-jähriger Vater nach einer Schilddrüsenoperation aus der Narkose aufwachte, war er nicht mehr er selbst.

Etwa 15 Millionen Patienten werden in Deutschland jährlich stationär operiert, jeder Fünfte leidet danach an einem Delir. Dennoch kennen die meisten Menschen diese Form der kognitiven Störung nicht, oft bleibt sie unentdeckt. Ein Delir ist ein sehr verwirrter Zustand: „Man kann es sich vorstellen, wie aus einem Albtraum aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man ist und was geschieht – nur schlimmer“, sagt Claudia Spies von der Klinik für Anästhesiologie der Berliner Charité.

Kürzlich fand hier das Leopoldina-Symposium „Postoperative Kognitive Störung“ statt. Auch Riese berichtete dort als Referent von seinen Erlebnissen. Selbst er als Mediziner sei mit der Situation überfordert gewesen. „Mein Vater war für sein Alter in normaler Verfassung. Wir rechneten mit zwei, drei Tagen Klinikaufenthalt“, erinnert er sich. Dann kam alles anders: Lungenentzündung, Luftröhrenkanüle, Magensonde, Druckgeschwür. „Zwei Monate in der Klinik, danach ins Reha-Krankenhaus, psychisch als auch physisch beeinträchtigt", sagt Riese. Kein ungewöhnlicher Verlauf.

Ein Delir kann Langzeitschäden nach sich ziehen

Ein Delir kann schwerwiegende Folgen haben, erläutert Finn Radtke, Oberarzt an der Charité: „Wer betroffen ist, hat ein dreifach höheres Risiko, binnen eines halben Jahres nach der Entlassung zu sterben. Zudem bleiben Langzeitschäden, das Risiko der Pflegebedürftigkeit verdoppelt sich.“ Daher sei eine umfassende Überwachung der kognitiven Verfassung vor, während und nach der Operation wichtig. Denn nicht immer ist ein Delir so auffällig wie bei Rieses Vater. Weitere Symptome sind Schläfrigkeit, Desinteresse und Apathie, vor allem aber eine gestörte Aufmerksamkeit und Umgebungswahrnehmung sowie ein schlechteres Gedächtnis. Das gilt es zu erkennen und richtig zu deuten.

„Dafür gibt es Checklisten, die im Rahmen der Narkose sowie danach im Aufwachraum abgehakt werden“, erläutert Spies. So vergleichen Ärzte und Pflegepersonal die kognitiven Fähigkeiten des Patienten vor und nach einer Operation, um Alarmsignale zu erkennen. Manche Fragebögen sind so simpel, dass sowohl ungeübtes Personal als auch Familienangehörige sie abhaken können.

Auf Intensivstationen reicht das nicht, dort sollten Fachkräfte umfangreiche Tests machen. Dabei müssen sie den Geisteszustand des Patienten anhand von Skalen bestimmen sowie mithilfe verschiedener Fragen und Aufgaben das logische Denkvermögen und die Aufmerksamkeit prüfen. Sie buchstabieren dabei zum Beispiel langsam das Wort ANANASBAUM. Bei jedem A soll der Patient die Hand des Testers drücken. Deutet das Ergebnis des Tests auf ein Delir hin, geben sie Alarm.

Stress steigert das Risiko, ein Delir zu erleiden

Die strengere Überwachung auf Intensivstationen hat einen Grund: Bis zu 80 Prozent der beatmeten Patienten dort leiden an einem Delir, auf einer Normalstation sind es dagegen etwa 25 Prozent. Die genauen Ursachen sind ungeklärt. Experten vermuten einen Zusammenhang zwischen Vorerkrankungen, Stress, Entzündungen sowie dem Alter der Patienten. Wahrscheinlich führe der Operationsstress in Kombination mit bestimmten Medikamenten dazu, dass kognitive Störungen nach dem Eingriff vorübergehend oder auch dauerhaft verstärkt werden.

Es ist daher wichtig, den Stress für die Patienten zu mindern. „Sobald der Körper unter Stress steht – sei es durch eine Entzündung, eine Infektion oder eben einen chirurgischen Eingriff – wird die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger“, erklärt Spies. Das Gehirn könne das selbst verhindern, indem es den Parasympathikus aktiviert. Denn dieser Nerv fördert den Ruhezustand des Körpers. „Allerdings schlucken ältere Patienten viele Medikamente, die den Parasympathikus teilweise hemmen und damit verhindern, dass er den Vorgang blockiert.“

Da selbst Flüssigkeitsmangel Stress hervorruft, sollte die nüchterne Phase vor dem Eingriff verkürzt werden. Auch die richtige Menge an Schmerzmitteln während der Operation sowie die Messung der Hirnströme, wodurch die richtige Tiefe der Narkose eingehalten werden kann, reduzieren den Stress. Möglicherweise verhindern solche Maßnahmen, dass sich das Erwachen aus der Narkose wie das aus einem Albtraum anfühlt.

Vertraute Stimmen und Gesichter helfen, den Patienten zu beruhigen

Gerade in der Aufwachphase ist es wichtig, dass Angehörige und Freunde da sind: Die vertrauten Stimmen und Gesichter beruhigen den Patienten. „Nach einem schlechten Traum ist es auch förderlich, jemanden um sich zu haben, um wieder in die Realität zurückzufinden“, sagt Spies. „Außerdem helfen scheinbar banale Dinge wie Brillen und Hörgeräte dem Patienten sehr beim Orientieren.“

Auch eine Autoimmunerkrankung könnte ein Delir verursachen, ausgelöst von Immunglobulin-A-Antikörpern (IgA), vermuten Experten wie der Neurologe Harald Prüß von der Charité. Normalerweise befinden sich IgA in Blut und Gewebeflüssigkeiten. Sorgt Stress für eine geschwächte Blut-Hirn-Schranke, könnten die Antikörper ins Gehirn gelangen. Dort greifen sie NMDA-Rezeptoren an, die jede Nervenzelle besitzt.

Damit Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergetragen werden können, brauchen sie an ihren Verbindungsstellen Botenstoffe wie Glutamat. Es reicht aber nicht, dass der Stoff ausgeschüttet wird, er muss auch an der nächsten Nervenzelle an den NMDA-Rezeptoren andocken können. Diese Rezeptoren wirken üblicherweise als Kanal, durch die Ionen in das Innere der Zelle wandern können. Sind sie durch Antikörper blockiert, könne das das Gedächtnis, die Auffassungsgabe oder auch die Informationsverarbeitung schädigen, berichteten die Forscher während des Symposiums.

"Ärzte und Pfleger müssen erklären, was passiert"

Im Labor könne man einen erhöhten IgA-Wert im Hirnwasser feststellen und dann mithilfe einer Blutwäsche wieder reduzieren. Auch eine Immuntherapie sei möglich. Erste Versuche liefen bereits. Allerdings gebe es noch weiteren Forschungsbedarf, sagt Spies.

Den Experten ging es jedoch nicht nur um die Ursachenforschung, die für die Entwicklung geeigneter Medikamente und Therapien wichtig ist. Ihr Ziel ist auch eine flächendeckende und geregelte Überwachung der Patienten. Außerdem sollte die Kommunikation im Klinikalltag, vor allem mit den Angehörigen, verbessert werden. „Die Ärzte und Pfleger müssen erklären, was passiert“, sagt Florian Riese. Sein Vater hat sich zwar mittlerweile erholt, die Folgen spürt er aber immer noch. Obwohl Riese selbst Mediziner ist, habe er sich alleingelassen gefühlt: „Für Laien wären Erklärungen hilfreich. So können sie mit der Situation besser umgehen und dadurch dem Patienten den nötigen Halt geben.“

Anja Wagenblast

Zur Startseite