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In Großbritannien sind schon viele Menschen zweimal geimpft.

© REUTERS/Jon Nazca

Update

„Mindestens 50.000 Fälle pro Tag“: Experten in Großbritannien rechnen mit stark steigenden Fallzahlen

Wegen der Delta-Variante steigt die Zahl der Neuinfektionen in Großbritannien rasant. Aber führt das auch zu einer kritischen Situation in den Kliniken?

Von Thomas Sabin

Plötzlich, zu Beginn des Junis, begann die Kurve eine Kehrtwende einzulegen – erneut. Die Linie, die abbildet, wie viele Menschen in Großbritannien positiv auf das Coronavirus getestet wurden und die von etwa Anfang April bis Ende Mai flach verlief, schießt nun wieder nach oben.

Neil Ferguson, Professor für Epidemiologie am Imperial College London, leitet eines der Teams, das Modelle erstellt, die von der Regierung als Grundlage für ihre Entscheidungen verwendet werden. In der Sendung „Today“ von BBC Radio 4 sagte er am Dienstagmorgen, dass, obwohl die Fallzahlen erheblich zunehmen würden, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle wahrscheinlich viel niedriger sein werden als in der Vergangenheit.

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Ferguson erklärte: „Diese dritte Welle wird ganz anders aussehen als die zweite Welle. In Bezug auf die Fälle pro Tag denke ich, dass wir mindestens 50.000 erreichen werden“, so der Professor. Was man jedoch wisse, ist, dass es in der zweiten Welle ein gewisses Verhältnis zwischen Fällen und Krankenhauseinweisungen gab, und dieses Verhältnis werde derzeit um mehr als zwei Drittel reduziert, sagte Ferguson weiter. Er plädierte zudem für mehr Zweitimpfungen, um die Zahlen von Infektionen und Erkrankungen weiter zu drücken.

Das Verhältnis, das in der Vergangenheit zwischen Fallzahlen und Todesfällen zu sehen war, konnte laut Ferguson um das Acht- bis Zehnfache reduziert werden. „Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle würden 50.000 Fälle etwa 500 Todesfälle bedeuten, aber dieses Mal werden es viel weniger sein, eher 50“, so Ferguson.

Bei 200.000 Infektionen wird es kritisch

Zudem sagte der Epidemiologe, die Entscheidung der Regierung, die meisten verbleibenden Corona-Beschränkungen für England ab dem 19. Juli aufzuheben, sei gerechtfertigt. Aber es sei immer noch ein „kleines Glücksspiel“, sagte er. Es sei jedoch möglich, dass es wieder Einschränkungen geben könnte.

„Es gibt immer noch das Potenzial, sehr hohe Fallzahlen zu bekommen. Wenn wir bei 150.000 oder 200.000 ankommen, könnte dies immer noch einen gewissen Druck auf das Gesundheitssystem ausüben“, warnte er. „Dies ist ein kleines Wagnis, es ist im Moment ein kleines Experiment. Ich bin einigermaßen optimistisch, aber die Politik muss flexibel bleiben.“

Auch der britische Gesundheitsminister Sajid Javid hat die geplante Aufhebung aller Corona-Maßnahmen in England verteidigt. „Wir sind sehr zufrieden mit den verkündeten Entscheidungen“, sagte er am Dienstag dem Sender Sky News. Er räumte ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen wegen der für 19. Juli angepeilten Lockerungen erhöhen werde. Aber der Einsatz von Impfstoffen habe die Verbindung von Infektionen und Krankenhauseinweisungen sowie Todesfällen geschwächt.

„Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall“, sagte Javid. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“

Inzidenz in Großbritannien knackt 250er-Marke

Die aktuelle Inzidenz liegt im Vereinigten Königreich derzeit bei 265 (Stand 5. Juli) – damit ist Großbritannien ein Hochinzidenzgebiet. Zuletzt registrierten die Behörden mehr als 27.106 neue Fälle an einem Tag, rund 53 Prozent mehr im Vergleich zum Vorwochenzeitraum. So hoch waren die Zahlen seit Monaten nicht mehr. Für fast alle Neuinfektionen ist Delta verantwortlich.

Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Inzidenz derzeit bei fünf, die Neuinfektionen bei deutlich unter 1000 pro Tag. Die Frage ist auch mit Blick auf Deutschland: Führen die hohen Fallzahlen in Großbritannien auch zu einer kritischen Situation in den Kliniken? Und wer ist besonders von schweren Fällen betroffen?

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Die Antworten kurz zusammengefasst: Ja, die Kliniken füllen sich langsam wieder mit Covid-Patienten. Das jedoch deutlich schwächer als in der ersten und zweiten Welle. Im Zeitraum vom 23. Juni bis 29. Juni wurden insgesamt 1953 Patienten in ein Krankenhaus aufgenommen. Im Vergleich zum Zeitraum vom 16. Juni bis 22. Juni macht das einen Anstieg von rund 24 Prozent aus.

Im Zeitraum vom 29. Juni bis 5. Juli sind 128 Menschen gemeldet worden, die in Großbritannien am Coronavirus gestorben sind, wie aus den Zahlen der britischen Regierungsbehörde Public Health England (PHE) hervorgeht. Das sind rund fünf Prozent mehr als in den vorherigen sieben Tagen.

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Zum Vergleich: Im Januar mussten die britischen Krankenhäuser täglich durchschnittlich mehr als 4000 neue Corona-Patienten aufnehmen. Und täglich starben mehr als 1200 Menschen an Corona. Die aktuellen Zahlen zeigen also, dass eine Auslastung oder gar Überlastung der Krankenhäuser trotz steigender Inzidenz nicht einzutreten scheint.

Im Gegensatz zum vergleichsweise moderaten Anstieg bei den Zahlen zur Krankenhauseinweisung ist die Zahl der Patienten an Beatmungsgeräten stark gestiegen – wenn auch hier auf niedrigem Niveau. Laut den aktuellsten Zahlen aus der vorletzten Juniwoche werden rund 260 Menschen derzeit beatmet. Laut einem Bericht des „Guardian“ waren es die Woche davor 41 Prozent weniger Patienten.

Delta trifft ungeimpfte Gruppen

Der Weg der Briten scheint also klar. Doch wen treffen die meisten Neuinfektionen im Vereinigten Königreich derzeit eigentlich? Ferguson sagte bereits vor Tagen in der Sendung „Today“, dass die Infektionsraten – insbesondere für die Delta-Variante – in ungeimpften Gruppen, einschließlich Kindern im Schulalter, konzentriert sind.

Und er sollte recht behalten. Die Zahl der Kinder, die letzte Woche in England wegen Corona die Schule verpasst haben, ist um 66 Prozent gestiegen. Das geht aus Zahlen des britischen Bildungsministeriums hervor. Insgesamt macht das 641.000 Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht fernblieben, wovon jeder zehnte die Sekundarstufe besucht.

In der Vorwoche haben sich 330.000 Schülerinnen und Schüler aufgrund von Kontakten innerhalb und außerhalb der Schule aktiv selbst isoliert. Das Bildungsministerium teilte jedoch mit, dass am 1. Juli 561.000 aufgrund eines Corona-Kontaktes fehlten, darunter 471.000 wegen enger Kontakte innerhalb der Schule.

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„Leider wird sich dieses Bild noch ein paar Wochen fortsetzen, bis wir die dritte Welle hinter uns haben, die sich in den nächsten Monaten entfalten wird“, sagte Ferguson. Die „Sunday Times“ berichtete, dass die Zahl der infizierten 5- bis 9-Jährigen in der Woche vom 20. Juni im Vergleich zur Vorwoche um 70 Prozent gestiegen.

Bei den 10- bis 14-Jährigen soll die Zahl der Infizierten um 56 Prozent angewachsen sein. Insgesamt 16.100 Schüler und Schülerinnen sollen wegen einer Corona-Infektion nicht in der Schule gewesen sein (Vorwoche: 10.600).

Steve Chalke von der christlichen Wohltätigkeitsorganisation Oasis Charitable Trust erklärte, Schulen seien „Inkubationszentren für die neue Delta-Variante“. Der Trend in Schulen zeige seit drei Wochen nach oben. „Wir haben offensichtlich noch nicht die Spitze dieser dritten Welle erreicht.“

Inzidenzanstieg gerade bei Jüngeren

Der Inzidenzanstieg zeichnet sich auch deshalb jetzt bei den Jüngeren ab, da bis Mitte April überwiegend die über 50-Jährigen ihre Impfung erhielten. So gibt es vor allem unter den 16- bis 24-Jährigen sehr viele Infektionen. Das geht aus den neusten Daten der britischen Statistikbehörde hervor. Bei den 25- bis 34 Jahre alten Briten schwächt sich der Anstieg wieder etwas ab. Diese Gruppen sind es, die für das derzeitige Infektionsgeschehen im Vereinigten Königreich ausschlaggebend sind.

Die meisten Corona-Toten finden sich jedoch weiterhin in der Gruppe der Älteren. Das zeigen Daten des Berichts über besorgniserregende Sars-CoV-2-Varianten der britischen Behörde PHE. So waren 109 von 117 an Delta gestorbene im Zeitraum vom 1. Februar bis 21. Juni über 50 Jahre alt.

[Mehr zum Thema: Wie die verschiedenen Impfstoffe gegen Delta schützen – ein Überblick]

Von diesen Verstorbenen waren 18 Personen erstgeimpft und 50 hatten beide Impfungen erhalten. Sprich, die Mehrheit der Menschen, die älter als 50 Jahre waren und in Großbritannien in Zusammenhang mit Delta gestorben sind, war zumindest einmal geimpft.

Die renommierten britischen Statistiker David Spiegelhalter und Anthony Masters verwundert das nicht. Sie schreiben in einem Artikel im „Guardian“, dass ein vollgeimpfter 80-Jähriger statistisch dasselbe Sterberisiko bei einer Coronainfektion hat wie ein ungeimpfter 50-Jähriger. Die Impfungen auch nach zwei Dosen würden eben nicht 100 prozentig gegen tödliche Verläufe schützen. Noch weniger bei den Älteren.

Aktuell sind rund 66 Prozent der Erwachsenen mit einer ersten Dosis geimpft, rund 49 Prozent haben auch eine zweite bekommen (Stand 1. Juli). Rund 45 Millionen Briten sind demnach erstgeimpft, mehr als 33 Millionen haben eine Zweitimpfung erhalten.

Die Ärztin Jenny Harries, die die Gesundheitsbehörde UK Health Security Agency leitet und die Kontaktverfolgung in Großbritannien koordiniert, fasst die aktuelle so zusammen: „Die Daten legen nahe, dass wir dank des Erfolgs unseres Impfprogramms die Verbindung zwischen Infektionszahlen und Krankenhauseinweisungen durchbrochen haben.“ Keine ganz schlechten Aussichten für Deutschland.

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