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Global Player. 3D-Bild eines Clusters von Mycobacterium tuberculosis. Der Erreger begleitet uns seit Tausenden von Jahren. Auch er mutiert. In jüngster Zeit tut er dies vor allem in einer Weise, die es zunehmend erschwert, seiner mit Antibiotika Herr zu werden.

© CDC/James Archer

Menschen, Keime, Mutationen: Krankheitserreger, die unsichtbaren Geschichtsschreiber

Im Schatten der Covid-Forschung häufen sich neue, ziemlich relevante Erkenntnisse zu Seuchen insgesamt. Und manches Lehrbuchwissen muss revidiert werden.

Vor Covid-19 war sie die tödlichste Seuche der Welt. 2018 schätzte die Weltgesundheitsorganisation zehn Millionen aktiv Erkrankte und knapp 1,5 Millionen Todesfälle. Nach wie vor infizieren sich jährlich vielmillionenfach Menschen damit. Zwischen einem Drittel und einem Viertel der Menschheit trägt den Erreger – meist ohne Symptome und ohne infektiös zu sein. Etwa zehn Prozent der Infizierten erkranken. Damit ist sie eine der gefährlichsten Infektionen. Die Tuberkulose.

Ähnlich wie die Beulenpest, einer ihrer Konkurrenten unter den tödlichsten Seuchen, wird sie von einem Bakterium (statt eines Virus wie bei Covid, Pocken oder Masern) ausgelöst. Doch auch Mycobacterium tuberculosis springt, wie Sars-CoV-2, per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch und befällt meist die Lunge.

Killerkeim No. 1

Tuberkulose hat wohl mehr Menschen getötet als jede andere Seuche. Pest, Spanische Grippe, Covid-19 und viele andere brachten zusammen vielen Millionen Menschen den Tod. Doch Tuberkulose ist nicht nur oft tödlich, sondern auch schon sehr alt. Ihre Infektionsgeschichte reicht, wie jetzt nachgewiesen werden konnte, viele Tausende Jahre bis an den Anfang der sesshaften Lebensweise zurück. Mehr als eine Milliarde Menschen dürften ihr erlegen sein.

Warum und wann „Tb“ so tödlich wurde, war lange rätselhaft. Einer jetzt im Fachmagazin „The American Journal of Human Genetics“ veröffentlichten Studie zufolge reichen ihre Wurzeln wenigstens 10 000 Jahre zurück, als der Mensch Ackerbau und Viehzucht zu betreiben begann. Ihre pandemische Wirkung dürfte sie aber erst vor etwa 2000 bis 3000 Jahren entfaltet haben, als immer mehr Menschen immer enger zusammenlebten. Fast nur jene mit einer effektiven Immunantwort überlebten sie von da an.

Wie viele tödliche Infektionen ist Tuberkulose eine Zoonose. Sie sprang also einst von Tieren auf den Menschen über, mutierte und wurde dann auch von Mensch zu Mensch weitergegeben. In seiner heutigen genetischen Zustandsform treibt das Mycobacterium seit etwa 2000 Jahren sein Unwesen. Damals begannen Menschen dichter gedrängt in Städten zu siedeln. Seit der Bronzezeit hat es dabei die Immunantwort des Menschen erst in Europa und Afrika, dann auch auf anderen Kontinenten verändert.

„Wir alle sind die Abkömmlinge jener Menschen, die die vergangenen Pandemien auch dieser Krankheit überlebt haben“, so Lluis Quintana-Murci vom Institut Pasteur und Collège de France in Paris. Gemeinsam mit seinem Kollegen Gaspard Kerner ist er der Spur einzelner Mutationen von Mycobacterium tuberculosis im Genom von mehr als tausend Europäern aus den vergangenen Jahrtausenden gefolgt.

Eine Genvariante entscheidet

Eine Schlüsselrolle spielen dabei Varianten des Immungens TKY2. Die Forscher fanden hier eine seltene Mutation namens P1104A bei einem Bauern, der vor rund 8500 Jahren in Anatolien lebte. Vermutlich mit dem sich ausbreitenden Ackerbau und der Viehzucht gelangte sie auch nach Europa. Die genetischen Veränderungen über lange Zeiträume erlauben den Forschern eine Abschätzung, wie häufig einzelne Mutationen früher einmal waren. Auf diese Weise ermittelten Kerner und Quintana-Murci, dass die Variante P1104A bis vor etwa 5000 Jahren bei etwa drei Prozent der Bevölkerung vorhanden gewesen sein dürfte. In der mittleren Bronzezeit vor etwa 3000 Jahren dann trugen sie zehn Prozent aller Europäer. Doch dann fiel ihr Anteil auf etwa 2,9 Prozent zurück. So viel sind es auch heute bei den Bewohnern des Kontinents.

Diese drastische Veränderung fällt zusammen mit dem ersten Auftreten jener Tuberkulose-Variante, die heute vorherrscht. Durch Computersimulationen konnten die Forscher plausibel zeigen, wie Bevölkerungsdichte und Wanderungen die Häufigkeit einzelner Genvarianten beeinflusst haben dürften. Demnach wäre wenigstens ein Fünftel der damaligen Bevölkerung ernsthaft erkrankt oder gestorben, wenn in ihrem Erbgut zwei Kopien der ursprünglichen und heute seltenen Variante P1104A vorlagen. Daher trugen diese Variante am Ende der Bronzezeit vor 2000 Jahren nur noch wenige Menschen. Bei einer Infektion hatten deren Träger demnach schlicht weniger Chancen zu überleben und ihre Gene an Nachkommen weiterzugeben. So sank der Anteil der tödlichen Variante – durch unzählige Todesfälle – auf ein niedriges Niveau.

Über das Meer und um das Kap

„Infektionskrankheiten sind die stärkste Evolutionskraft mit der wir Menschen konfrontiert sind“, ist Lluis Quintana-Murci daher überzeugt. Und die Molekularanthropologin Anne Stone von der Arizona State University in Tempe stellt schlicht fest: Wer nur die ältere und nun rare Variante in seiner genetischen Ausstattung hatte, sei arm dran – sprich: besonders gefährdet – gewesen, sobald das Mycobacterium auftauchte.

Kirsten Bos vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig hatte schon 2014 in einer Studie gezeigt, dass es nicht – wie lange angenommen – europäische Eroberer waren, die die Tuberkulose nach Amerika brachten. Vielmehr ergab die Untersuchung von Bakterien-Genomen aus Knochen in vorkolumbianischen Gräbern in Peru, dass der Erreger bereits vor mehr als tausend Jahren vermutlich mit Ohrenrobben aus Afrika über den Atlantik in die Neue Welt gelangte.

Tatsächlich schwimmen Seehunde und Seelöwen von der Küste Südafrikas und Namibias bei ihren Beutezügen weit in den Atlantik hinaus und könnten so den Erreger auch nach Südamerika getragen haben. Über verwandte Arten könnte er an die Westküste gelangt sein – und über erlegte Exemplare dann in den Menschen. Die Daten legen nahe, dass es zuerst die Chiribaya-Kultur zwischen 900 und 1350 im Süden des heutigen Peru traf. Vor etwa 700 Jahren erreichten Tuberkulosebakterien dann auch Nordamerika.

Tödliches Update aus Europa

Die Konquistadoren-Theorie ist trotzdem nicht ganz falsch. Denn die Befunde weisen darauf hin, dass die Europäer aggressivere Varianten mitbrachten. Erst diese wurden dann – zusammen mit etlichen anderen tödlichen Krankheiten – zur zynisch-effektivsten Waffe bei der rabiaten Kolonisierung. Millionen Ureinwohner erkrankten und starben.

Was passiert, wenn eine hinsichtlich ihrer Immunabwehr „naive“ Bevölkerung mit einem neuartigen Erreger konfrontiert wird, legen neue Studien auch zum Masernvirus nahe. Es ist laut genetischem Vergleich nächst verwandt mit den Erregern der – inzwischen ausgerotteten – Rinderpest. Früher glaubte man, dass das Masern-Virus allein beim Menschen auftritt, wie es übrigens bis vor kurzem auch für das Röteln-Virus angenommen wurde. Tatsächlich aber sind beide ebenfalls Zoonosen, mit Ursprung in Nutz- und Haustieren.

Das Masernvirus ist offenbar erstmals vor rund 2500 Jahren von Rindern auf Menschen übergesprungen, also ebenfalls zu einer Zeit, als Menschen im östlichen Mittelmeerraum begannen, in städtischen Zivilisationen immer enger und noch dazu oft unter einem Dach mit ihrem Vieh zusammenzuleben.

"Attische Seuche"

Als dem Masern-Virus dank Mutationen auch die Übertragung von Mensch zu Mensch gelungen war und es sich an seinen neuen Wirt anpasste, dürfte es erste tödliche Pandemien ausgelöst haben. Die durch den Historiker Thukydides beschriebene „Attische Seuche“ könnte eine solche gewesen sein. Sie wütete von 430 bis 426 v. Chr. während des Peloponnesischen Krieges in Athen. Ein Viertel der Bevölkerung fiel ihr zum Opfer.

Es war möglicherweise die erste Pandemie der Menschheit und hat wohl, wie ihre Nachfolger, den Lauf der Geschichte beeinflusst. Erst später verloren die Masern durch weitere genetische Veränderungen zumindest einiges von ihrem Schrecken. Heute sind sie eine der häufigsten Kinderkrankheiten. Indes dezimierten sie während der europäischen Expansion in Amerika wiederholt und in massiver Weise die dortige indigene Bevölkerung, da den Ureinwohnern die über zwei Jahrtausende in der Alten Welt entstandene – aber eben durch zahlreiche Tode erkaufte – Immunantwort fehlte.

Im Schatten der Covid-Pandemie, warnen Fachleute, könnten sich andere Seuchen wie Tb, HIV und Malaria wieder rasant um die Erde ausbreiten. Stefan Kaufmann vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin etwa befürchtet mehr als 1,2 Millionen zusätzliche Infektionen und 300 000 Tote allein durch den Tuberkulose-Erreger. Beim Wiederhochfahren nach dem Lockdown würden vermutlich gerade im globalen Süden Hunderttausende unerkannt infiziert werden. Und Mutationen, die Antibiotika-Behandlungen erschweren, verbreiten. Es sei deshalb, schrieb er unlängst in dieser Zeitung, mehr denn je wichtig, etwa Tb-Infektionen frühzeitig zu diagnostizieren und auch hier in die Impfstoff-Entwicklung zu investieren.

Matthias Glaubrecht ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg. Zuletzt erschien sein Buch „Das Ende der Evolution“ (C. Bertelsmann).

Matthias Glaubrecht

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