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Wegen der Nervenschäden sind MS-Patienten nicht selten auf den Rollstuhl angewiesen. Doch neue Medikamente können vielen helfen.

© Imago

Medizin: Schub für die Multiple-Sklerose-Therapie

Typische Krankheitszeichen sind Kribbeln und Sehstörungen. Nun soll ein neuer Wirkstoff die aggressive Form des Nervenleidens Multiple Sklerose erstmals in Schach halten.

Das Nervenleiden Multiple Sklerose (MS) gilt als „Krankheit mit 1000 Gesichtern“. Für viele, die mit der Diagnose MS konfrontiert werden, kann das ein Trost sein. Ihre Krankheit tritt zu Beginn meistens in Schüben auf, Medikamente können sie ganz gut in Schach halten und dafür sorgen, dass die Intervalle der Normalität zwischen den Schüben groß sind.

Beunruhigender sind schon die Gesichtszüge, die die schleichende, „primär progrediente“ Form der MS trägt. Das ist eine Form der Erkrankung, bei der die MS-typischen Krankheitszeichen wie Taubheitsgefühle, Kribbeln, Sehstörungen und vor allem die Bewegungseinschränkungen von Anfang an und stetig zunehmen. Ohne dass ein Medikament dem Fortschreiten des Leidens Einhalt gebieten könnte. Was kürzlich im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ über die Ergebnisse einer neuen Untersuchung zu lesen war, ist deshalb für den Neurologen Peter Calabresi von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore eine „Meilenstein-Studie“.

Antikörper könnten weiter an Bedeutung gewinnen

In der internationalen „Oratorio“-Studie wurde der neuartige Wirkstoff Ocrelizumab getestet und mit einem Scheinmedikament (Placebo) verglichen. Ocrelizumab ist ein gentechnisch hergestellter Antikörper und damit ein Eiweißmolekül, das in einer Infusion gegeben werden muss. Unter Federführung von Xavier Montalban vom Universitätsklinikum Vall d’Hebron in Barcelona bekamen insgesamt 732 Patienten mit primär fortschreitender MS entweder zweimal im Jahr eine Infusion mit 600 Milligramm des Antikörpers Ocrelizumab oder aber ein Scheinmedikament. Über zwei Jahre lang war das Risiko der Patienten aus der Antikörper-Gruppe, ein Fortschreiten ihrer Behinderungen zu erleben, um ein Viertel niedriger als das der Teilnehmer aus der Placebo-Gruppe. Auch das Ausmaß der Schädigungen, die bei Hirnscan-Untersuchungen erkennbar sind, war deutlich geringer.

Therapien mit identischen (monoklonalen) Antikörpern – erkennbar an der Endung -mab im Namen der Substanzen – werden erfolgreich bei der Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose, von Rheuma, Krebs und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt. Nun könnten sie im Kampf gegen die MS weiter an Bedeutung gewinnen, unter der weltweit rund 2,3 Millionen Menschen leiden. Sie ist eine der Hauptursachen für dauerhafte körperliche Behinderung und wird im Schnitt schon mit 30 Jahren diagnostiziert.

Die genauen Mechanismen im Hirn sind noch nicht bekannt

Fest steht, dass dabei die körpereigene Abwehr fälschlicherweise Strukturen des Zentralnervensystems angreift und vor allem die Hüllen der Nervenfasern zerstört. Zellen des Immunsystems machen im Gehirn harmlose körpereigene Proteine als vermeintliche Feinde kenntlich und aktivieren damit andere Immunzellen.

Andere Formen der MS als die „primär progrediente“ lassen sich bereits mit Medikamenten abmildern. „Es ist nicht mehr so wie vor 25 Jahren, wo wir nichts in der Hand hatten“, sagt der Neurologe Lutz Harms von der Berliner Charité. „Die Mehrheit unserer Patienten kann ein weitgehend normales Leben führen.“

Pionier unter den Mitteln, die Einfluss auf das Immunsystem nehmen, war Interferon-beta. Inzwischen ist die Auswahl größer geworden, weitere Substanzen werden in den nächsten Jahren hinzukommen. Mittel, die das Immunsystem modulieren, und andere, die es unterdrücken. Mittel mit unterschiedlichen Angriffspunkten.

Schon seit Jahrzehnten verficht der Neurologe Stephen Hauser von der Universität von Kalifornien die Überzeugung, dass neben den T-Zellen auch die B-Zellen des Immunsystems im Krankheitsgeschehen eine Rolle spielen. Immunzellen, die eine gestörte Entwicklung durchmachen, die Blut-Hirn-Schranke überwinden und ins Gehirn einwandern. Auf welchen Wegen sie dort für Unordnung sorgen, ist noch unklar. Auf jeden Fall schaffen sie es, die Zerstörung harmloser Proteine in Gang zu setzen, aus denen die Nervenhülle Myelin besteht. Der Antikörper Ocrelizumab erkennt eine „Antenne“ auf der Oberfläche der B-Zellen und kann sie zerstören.

Rückfälle um fast 50 Prozent geringer

Hauser präsentierte in derselben Ausgabe des „New England Journal“, in der über die „Oratorio“-Studie berichtet wurde, die Ergebnisse der beiden identisch angelegten internationalen Studien „Opera I“ und „Opera II“ mit über 1600 Patienten. Sie zeigen, dass dieses Prinzip sich auch bei der „schubförmig remittierenden“ Form der MS bewährt, und das offensichtlich besser als Interferon.

Patienten zwischen 18 und 55 Jahren, die solche Schübe schon erlebt hatten und bei denen im Hirnscan (Kernspin, MRT) die typischen Veränderungen sichtbar waren, wurden für die Studie nach dem Zufallsprinzip entweder alle 24 Wochen mit einer Antikörper-Infusion oder dreimal wöchentlich mit unter die Haut gespritztem Interferon-beta behandelt. Das Hauptinteresse der Forscher galt 96 Monate später den Rückfällen. Sie waren in der Antikörper-Gruppe um 46 und 47 Prozent geringer. Auch der Prozentsatz der Teilnehmer, bei denen sich im MRT neue Veränderungen zeigten oder deren Behinderungen sich verstärkt hatten, war deutlich geringer.

Nebenwirkungen sind noch unklar

„Monoklonale Antikörper sind sehr wirksame Substanzen, sie haben ohne Zweifel das Spektrum unserer Behandlungsmöglichkeiten erweitert“, urteilt der Charité-Neurologe Harms. Das gilt etwa für das seit 2006 für die Therapie der MS zugelassene Natalizumab, für Alemtuzumab oder das Mitte 2016 für MS zugelassene Daclizumab, aber auch für monoklonale Antikörper wie Rituximab, die bereits auf anderen medizinischen Gebieten eingesetzt werden. Für Ocrelizumab hat die Herstellerfirma Hoffmann La Roche jetzt die Zulassung in den USA und in Europa beantragt.

Zwar ist es angenehm, in jedem Jahr nur zwei Infusionen statt an jedem zweiten Tag eine Injektion zu brauchen. Doch ist unklar, welche Nebenwirkungen die Antikörper-Therapien langfristig haben. „Wir greifen hier tief ins Immunsystem ein“, gibt Harms zu bedenken. Grundsätzlich bleibt die MS die Krankheit mit den vielen Gesichtern. „Was wir aus Studien kennen, sind statistische Aussagen, wir wissen nicht individuell, was bei wem wirkt“, sagt Harms. Künftig sollen Tests helfen, die Wirkung der Mittel oder das Risiko von Nebenwirkungen beim individuellen Patienten vorherzusagen.

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