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Blick in den Körper. Früherkennung soll die Heilungschancen bei Krebs erhöhen.

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Medizin: Krebs ist Pechsache

Beim Entstehen von Tumoren spielt der Zufall die größte Rolle, haben amerikanische Forscher ermittelt. Das kann Kranke von Schuldgefühlen entlasten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Warum gerade ich? Das ist eine Frage, die sich viele Krebskranke stellen, nachdem die Krankheit sie oftmals wie aus heiterem Himmel erwischt hat. Habe ich etwas falsch gemacht? Schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel Stress? Krebs erscheint als Strafe für ungebührliches Verhalten, vielleicht gar als moralisches Urteil. Dass Familie, Freunde und Bekannte nicht selten ebenfalls über die Ursache der Geschwulst spekulieren, macht die Sache für den Patienten nicht besser. Auch wenn das dem sozialen Umfeld helfen mag, sich selbst von der unheimlichen Krankheit zu distanzieren. Nach dem Motto: Mir kann das nicht passieren, denn ich esse täglich Müsli!

Eine Studie entlastet nun den von Schuldgefühlen geplagten Krebskranken. Was Cristian Tomasetti und Bert Vogelstein von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore herausgefunden haben, ist zweifellos bahnbrechend: Krebs ist zu einem wesentlichen, vielleicht überwiegenden Teil ein Produkt des Zufalls. Er ist möglicherweise bedeutender als genetische Veranlagung und Umweltfaktoren wie Rauchen oder tumorerzeugende Viren, legen die Ergebnisse der Wissenschaftler nahe.

Anlage und Umwelt können Krebs nicht ausreichend erklären

Die im Fachblatt „Science“ veröffentlichte Untersuchung schließt eine große Erklärungslücke. Bisher galten erbliche Veranlagung und schädliche Umweltfaktoren, etwa Rauchen, als wesentliche Krebsursachen. Aber diese konnten nie zufriedenstellend erklären, warum auch Personen erkranken, die gesund leben und kein erhöhtes Risiko für Krebs in der Familie haben. Jetzt kennen wir die Ursache – diese Leute haben ganz einfach Pech gehabt. Auf der anderen Seite erklärt der Zufall auch, weshalb mitunter selbst starke Raucher ein hohes Alter erreichen. Sie haben jenes Quäntchen Glück, an dem es den Tumorkranken gemangelt hat.

Die Forscher gelangten zu ihrer Schätzung, indem sie sich die Stammzellen in 31 verschiedenen Gewebearten anschauten, darunter Knochen, Darm, Eierstöcke und Lungen. Stammzellen versorgen jedes Organ mit neuen Zellen. Dazu müssen sie sich teilen und zuvor ihre Erbinformation verdoppeln. Falls es der Zufall so will, können sich bei diesem Schritt in den Stammzellen schwerwiegende genetische Veränderungen, Mutationen, ereignen. Die wiederum sind die Ursache von Krebs, also dem ungezügelten, zerstörerischen Wachstum von körpereigenem Gewebe.

Mit der Zahl der Zellteilungen wächst das Risiko

Tomasetti und Vogelstein leiteten davon ihre Hypothese ab: Je häufiger sich in einem Gewebe Stammzellen teilen, umso größer ist die Tumorgefahr. Sie fanden einen deutlichen Zusammenhang. Etwa zwei Drittel der Unterschiede beim Krebsrisiko in den verschiedenen Organen können durch die Zahl der Stammzellteilungen erklärt werden.

22 der 31 untersuchten Gewebe hatten Tumoren, die sich hauptsächlich durch genetische „Teilungsunfälle“ erklären lassen. Bei den anderen neun Geschwulstformen waren ebenso vererbtes Risiko oder Umweltfaktoren im Spiel. Sie kamen zum stets vorhandenen Risiko durch zufällige Mutationen bei der Zellteilung noch hinzu.

Auch ein Paradox der Medizin können die Wissenschaftler aufklären. Während Dickdarmkrebs häufig ist, ist Dünndarmkrebs eine Rarität. Das kann daran liegen, dass es etwa 150-mal so viele Stammzellteilungen im Dick- wie im Dünndarm gibt, meinen sie.

Die rechtzeitige Erkennung von Tumoren muss wichtiger werden

Einschränkend muss man sagen, dass mit Brust- und Prostatakrebs zwei häufige Tumoren nicht Teil der Studie waren, weil es über Stammzellen in diesen Organen bislang zu wenige Informationen gibt. Die Ergebnisse sind also noch nicht endgültig, obwohl der Trend sich kaum ändern dürfte. Und schon jetzt ist klar, dass die Wissenschaftler den Krebskranken rehabilitieren, ihn vom Täter am eigenen Körper zum Opfer „befördert“ haben.

Die knifflige gesundheitspolitische Frage ist, ob die Möglichkeiten der Krebsvorbeugung nicht überschätzt werden. Selbstverständlich bleibt es weiter sinnvoll, nicht zu rauchen, sich viel zu bewegen und sich ausgewogen zu ernähren. Aber einen perfekten Schutz vor Tumoren bietet ein gesunder Lebensstil leider nicht. Vogelstein und Tomasetti plädieren für bessere Früherkennung, damit der Krebs chirurgisch entfernt werden kann, solange er noch heilbar ist. Bisher halten sich jedoch auch hier die Erfolge in Grenzen.

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