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Erkrankt. Links die gesunde Nervenzelle, rechts die kranke.

© imago/Science Photo Library

Medizin: Hoch dosiertes Vitamin verspricht Hilfe bei Multipler Sklerose

Mehr Energie könnte den Zellen von an MS Erkrankten helfen. Profitieren würde aber nur eine kleine Gruppe von Patienten.

In den letzten Jahrzehnten hat es in Sachen Multiple Sklerose immer wieder gute Nachrichten gegeben. Die Mehrheit der Erkrankten kann heute mit medikamentöser Hilfe ein weitgehend normales Leben führen. Und dabei geht es um ein langes Leben. Denn wenn sich die neurologische Erkrankung erstmals bemerkbar macht, sind die Betroffenen im Schnitt erst 30 Jahre alt. Wer unter der „schubförmig remittierenden“ Form der MS leidet, hat sozusagen Glück im Unglück: Hier gibt es Mittel, die den Verlauf abmildern. Sie wirken teilweise auch gegen die „sekundär progrediente“ Form des Leidens, bei der Verschlechterungen sich erst nach einiger Zeit schleichend einstellen.

In der Behandlung der „primär progredienten“ Form der neurologischen Erkrankung, die knapp jeden zehnten der weltweit 2,3 Millionen MS-Patienten trifft und bei der die Taubheitsgefühle, das Kribbeln, die Sehstörungen oder die Bewegungseinschränkungen von Anfang an und stetig zunehmen, sieht es bisher deutlich schlechter aus.

Hoffnungsschimmer

Nun zeigen sich leichte Hoffnungsschimmer am Horizont. So erregte in diesem Jahr eine Studie im renommierten „New England Journal of Medicine“ Aufsehen: Infusionen mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Ocrelizumab hatten die Studienteilnehmer ein Stück weit vor dem Fortschreiten der Behinderungen bewahrt und auch das Ausmaß der Schädigungen verringert, die man in der Magnetresonanz-Tomographie (MRT) erkennen kann. Ein Antrag auf Zulassung der Infusionstherapie bei dieser Form der MS läuft.

Und es gibt einen zweiten Hoffnungsträger, der nicht in das Immunsystem eingreift und ersten Erkenntnissen zufolge gut verträglich ist. Ein schlichtes Vitamin aus dem B-Komplex: Biotin. Als Nahrungsergänzungsmittel wird es immer wieder gegen brüchige Nägel und Haarausfall empfohlen, allerdings nehmen wir die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlene Tagesmenge von 30 bis 60 Mikrogramm meist mit der Nahrung auf, etwa mit Eigelb, Nüssen, Vollkornprodukten oder Innereien.

Ein Durchbruch ist noch nicht in Sicht

Ein Vielfaches dieser Menge in pharmazeutisch gereinigter Form enthält ein patentiertes Produkt der französischen Firma MedDay. In einer Studie, an der 16 neurologische Kliniken aus Frankreich teilnahmen, wurde es an insgesamt 154 Patienten mit progredienter MS im Alter zwischen 18 und 75 Jahren im Doppelblindversuch gegen ein Scheinmedikament getestet. Jeder achte unter den Teilnehmern, die dreimal täglich den Stoff MD 1003 eingenommen hatten, hatte ein Jahr später die vorher festgelegten Verbesserungen beim Gehen und anderen Alltagsverrichtungen erreicht. Jedoch kein einziger aus der Placebo-Gruppe.

Weil eine einzige Studie als Beweismittel nicht genügt, kann man noch nicht von einem Durchbruch sprechen. Es gibt noch keine Zulassung, allenfalls besteht in Frankreich und einigen anderen Ländern die Möglichkeit, im Rahmen von „Early Access“-Programmen an das Mittel zu kommen. Immerhin läuft derzeit eine große klinische Studie, an der sich mehrere europäische Länder beteiligen. Auch die Charité macht im Rahmen einer Studienambulanz mit. „Wir wünschen uns dringend etwas, das wir dieser Patientengruppe anbieten können“, sagt der Neurologe Lutz Harms, einer der Leiter des MS-Zentrums und der Arbeitsgruppe MS und Neuroimmunologie auf dem Campus Mitte des Uniklinikums.

Das Vitamin greift nicht ins Immunsystem ein

Wenn ein solches Angebot in einer biologischen, gut verträglichen Substanz bestehen würde, wäre das selbstverständlich rundherum begrüßenswert. Interessant ist zudem der Weg, auf dem Biotin die Nervenzellen zu schützen scheint: Das Vitamin greift nicht wie die anderen Medikamente in das Immunsystem ein, sondern beeinflusst den Energiestoffwechsel der Zellen. Es aktiviert Enzyme, die zum Aufbau von Myelin gebraucht werden, das die Nervenfasern als Schutzschicht umhüllt.

„Theoretisch kann man beide Ansätze kombinieren“, sagt Harms. Die körpereigene Abwehr zu beeinflussen, die bei der Multiplen Sklerose fälschlicherweise Strukturen des Zentralnervensystems angreift und vor allem die Hüllen der Nervenfasern zerstört, bleibt schließlich ein plausibler, durch Studien gestützter Behandlungsweg. Zudem gibt die erste Biotin-Studie nur Hinweise darauf, dass das hochdosierte Vitamin einer kleinen Gruppe von Patienten hilft. „Und wir wissen noch nicht sicher, wie lange dieser Effekt anhält“, gibt Harms zu bedenken.

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