zum Hauptinhalt
Alte Kraftwerke zu modernisieren ist kein fauler Kompromiss – so erkaufen wir uns Zeit zur Lösung wichtiger Probleme.

© imago/Westend61

Manifest zur Energiewende: Warum wir einen radikalen Systemwechsel brauchen

Die Uhr tickt. In 30 Jahren stoßen wir an eine Grenze, an der die Dynamik des Erdsystems für uns katastrophale Folgen haben könnte, warnen Forscher der Max-Planck-Gesellschaft. Eine sehr kurze Zeit für eine globale Energiewende. Ein Weckruf.

Energiewenden hat es seit der Entstehung des Lebens auf der Erde gegeben. Sie waren fast immer mit revolutionären Veränderungen verbunden, etwa als Bakterien lernten, chemische Energie aus Sonnenlicht zu gewinnen. Vor etwa 2,4 Milliarden Jahren entwickelte sich eine Bakterienart, die eine spezielle Art der Photosynthese betrieb, nämlich eine, die Sauerstoff freisetzte. Es ist die vielleicht wichtigste Stoffwechsel-Revolution auf unserem Planeten, da sie es Organismen erlaubte, Energie direkt aus Sonnenlicht und Wasser zu erzeugen und somit die Entwicklung des Lebens völlig neu gestaltete. War Sauerstoff für bis dahin vorherrschende Lebensformen Gift, bildete es für die neu entstehenden die Grundlagen ihrer Existenz, so auch für den Menschen. Auch in der Menschheitsgeschichte waren Energiewenden mit revolutionären Veränderungen verbunden, zum Beispiel als im 19. Jahrhundert die Nutzung fossiler Brennstoffe der industriellen Revolution einen wesentlichen, bis heute anhaltenden Schub verlieh.

Auch diese Revolution hatte unerwünschte Nebeneffekte, die sich insbesondere in Veränderungen der Atmosphäre niederschlagen: im Anstieg von Treibhausgasen, der zu einer globalen Erwärmung führt. Wenn wir nicht einfach die Antwort der biologischen Evolution auf diese Veränderung abwarten wollen, die langfristig auch das Ende unserer Spezies bedeuten könnte, benötigen wir eine neue globale Energiewende. Die Uhr tickt. Weltweit liegen die CO2 Emissionen bei rund 35 Milliarden Tonnen jährlich. Spätestens, wenn wir die Atmosphäre noch mit weiteren 1000 Milliarden Tonnen anreichern, stoßen wir an eine Grenze, an der die Dynamik des Erdsystems für uns katastrophale Folgen haben könnte. Das gibt uns noch circa 30 Jahre – eine sehr kurze Zeit für eine globale Energiewende.

Die Sonne liefert Energie gratis

Dass wir diese Wende dringend brauchen, heißt allerdings nicht, dass wir auch in der Lage sind, sie zu bewerkstelligen oder auch nur den richtigen Weg dorthin zu erkennen. Eine Voraussetzung dafür ist jedenfalls, der Versuchung zu widerstehen, die von allzu einfachen Lösungen ausgeht. Sie sind oft von einem blinden Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik getragen. Aus historischer Perspektive zum Beispiel erscheint der verbreitete Glaube daran, große Mengen CO2 sicher in der festen Erdkruste einlagern zu können, ebenso naiv wie die Überzeugung des 19. Jahrhunderts von der Atmosphäre als einem praktisch unbegrenzten Gefäß, in dem sich industrielle Abgase schon irgendwie auflösen würden.

Die Energiewende in Deutschland geht von der Nutzung erneuerbarer Energien aus. Das ist zweifellos der richtige Weg. Die durch die Sonne gelieferte Energie ist im Prinzip gratis. Wenn wir sie richtig nutzen, bietet sie die Chance einer kostenlosen Flatrate. Hierin liegt also nicht nur die Möglichkeit, den Klimawandel durch Verzicht auf fossile Brennstoffe zu begrenzen, sondern auch ein ungeheures ökonomisches Potential. Wer es zu nutzen versteht, schafft die Wirtschaft der Zukunft, eine Wende von einer ökonomischen Bedeutung, die jener der digitalen Revolution kaum nachstehen dürfte.

Der Umbau des gegenwärtigen Energiesystems ist allerdings nicht ohne ebenso radikale politische, soziale und ökonomische Veränderungen denkbar. Alle Energietransformationen waren letztlich Energierevolutionen. In der Naturgeschichte hat die Entwicklung der Photosynthese als neuer Mechanismus für die Energieversorgung von Zellen zugleich zu einer radikalen Umgestaltung des Erdsystems geführt. In der menschlichen Geschichte waren oft Kriege die Treiber solcher radikalen Erneuerungsprozesse. So war zum Beispiel der Erste Weltkrieg auch ein Sieg des Erdöls der Alliierten über die deutsche Kohle und beschleunigte umgekehrt den Übergang von der Kohle zum Öl.

Bedarf es einer weiteren Katastrophe als Weckruf?

Im Vergleich zur digitalen Revolution spielt beim Umbau des Energiesystems die Hardware eine entscheidendere Rolle, und damit auch die damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen und Pfadabhängigkeiten.

Können wir den Umbau des Energiesystems auch ohne Krieg und Not als Treiber schaffen? Reicht es, dass in Deutschland die Katastrophe von Fukushima den Anstoß für die gegenwärtige Energiewende gegeben hat? Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Energieversorgung hat seitdem jedenfalls erheblich zugenommen. Doch trotz erheblicher Investitionen wurde bisher kein CO2-Molekül weniger in die Atmosphäre abgegeben. Das versprochene Klimaziel einer Reduzierung der Emissionen bis 2020 wurde bei den Sondierungsgesprächen zur Großen Koalition aufgegeben. Die „Handlungslücke“ beträgt 120 Millionen Tonnen CO2. Auch die weiteren Klimaziele erscheinen ohne ein radikales Umsteuern gegenwärtig unerreichbar. Bedarf es also einer weiteren Katastrophe als Weckruf oder verfügen wir einfach nicht über die Technologien, um eine echte Energiewende zu bewirken?

Die Antwort ist komplizierter als diese einfache Alternative nahelegt. Zunächst muss man ernst nehmen, dass die Energiewende ein ganzes System betrifft, das ökonomische, politisch-regulative und technisch-wissenschaftliche Komponenten hat. Eine Katastrophe als Weckruf würde uns nicht einfach die benötigten Technologien bescheren. Andererseits würde die Entwicklung neuer Technologien nicht automatisch zu den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen führen. Wir brauchen eine radikale Veränderung dieses Systems, wie sie oft nur bei Kriegen und Revolutionen auftritt. Zugleich aber muss ein Energiesystemwandel so rational gestalten werden, wie es Kriege und Katastrophen normalerweise nicht gestatten.

Deshalb kommt es zuerst einmal darauf an zu verstehen, wie das gegenwärtige Energiesystem funktioniert und was ein neues leisten muss. Ein zukünftiges Energiesystem muss langfristig stabil und kurzfristig resilient sein, das heißt den Ausgleich von Schwankungen – bedingt etwa durch Tag und Nacht – erlauben. Es muss auf den verfügbaren Ressourcen aufbauen. Es muss klima- und umweltverträglich sein, insbesondere einen möglichst geschlossenen Kohlenstoffkreislauf einschließen. Es muss eine sozial akzeptable Versorgung mit Energie gewährleisten. Und es muss in den nächsten 20 bis 30 Jahre realisierbar sein. Einige dieser Anforderungen müssen auch in einer Übergangszeit erfüllt sein.

Warum die Energiewende versagt

Warum hat die bisherige Energiewende die Erwartungen nicht erfüllt? Das liegt nicht nur an einer zögerlichen Politik, sondern auch an einem mangelnden Verständnis der Funktionsweise eines Energiesystems. Entscheidend ist die Einsicht, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Komponenten umfasst: eine, die eine konstante Grundlast trägt und gegenwärtig von den konventionellen Energieträgern und der Kernenergie gewährleistet wird, und eine andere, die die „volatilen“, das heißt ständigen Schwankungen unterworfenen erneuerbaren Energiequellen Sonne und Wind beisteuern.

Da der Bedarf an Energie nicht gesunken ist und ohne die Grundlastkomponente keine resiliente Energieversorgung möglich ist, hat der steigende Anteil erneuerbarer Energien nichts an der wesentlichen Abhängigkeit des gegenwärtigen Energiesystems von den konventionellen Energieträgern geändert. Mit dem Wegfall der Kernenergie wird diese Abhängigkeit noch steigen. Andererseits führt der steigende Anteil erneuerbarer Energien zu Netzengpässen und Überlastkapazitäten, die im schlimmsten Fall zu einem Blackout führen können. Dass dies bisher nicht geschehen ist, liegt nicht zuletzt an der Bereitschaft unserer Nachbarländer, deutsche Stromüberkapazitäten kurzfristig aufzukaufen.

Das Versagen der gegenwärtigen Energiewende liegt also daran, dass sich an der Grundlastkomponente wenig geändert hat. Das hat Gründe, die einerseits in technischen und politischen Problemen wurzeln, die aber andererseits einen prinzipiellen Charakter haben. Der prinzipielle Grund liegt darin, dass die volatile Komponente eines Energiesystems die Grundlastkomponente nicht einfach ersetzen kann, man also weiterhin auf letztere angewiesen ist.

Wir müssen alte Kraftwerke modernisieren und effizienter nutzen

Die technischen und politischen Gründe für den mangelnden Erfolg der Energiewende hängen mit dem Fehlen einer Regelungsstruktur zusammen, die es erlauben würde, die durch konventionelle Träger gelieferte Energie immer dann zu drosseln, wenn die erneuerbaren für die Versorgung ausreichen. Die Verwirklichung einer solchen Struktur hängt nicht nur von technischen Fragen wie Lastmanagement und dezentralen Smart Grids ab, sondern auch von der Überwindung politischer und ökonomischer Hindernisse. Dazu zählen etwa gesetzliche Profitgarantien für bestimmte Energieanbieter (zum Beispiel Biogasabnahmegarantien für Bauern), das Fehlen einer „Ausspeisevergütung“ oder anderer wirtschaftlicher Anreize für das Herunterfahren konventioneller Energieträger sowie fehlende Anreize für Investitionen in die Modernisierung konventioneller Kraftwerke, die den CO2-Ausstoß um die Hälfte reduzieren könnte.

Die effizientere Nutzung konventioneller Energien durch neue Regelungen und Modernisierung ist ein dringend notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einem radikalen Umbau des Energiesystems. Denn ihr gegenwärtiger Abbau, sowie die verschleißende Weiternutzung ineffizienter alter Kraftwerke, macht angesichts der Volatilität der erneuerbaren Energien einen Blackout absehbar, in dessen Folge unweigerlich der Ruf nach dem Wiedereinschalten von Kohle- und Atomkraftwerken laut werden wird.

Der Vorschlag einer solchen Zwischenlösung mag überraschend klingend, richtet er sich doch an anderen Kraftlinien aus als die eingefahrenen politischen Diskurse. Er hat jedenfalls nichts mit einem politischen Kompromiss zu tun. Durch einen solchen Zwischenschritt würden wir uns vor allem die Zeit erkaufen, die zur Lösung der noch offenen Probleme nötig ist. Sie sind gleichermaßen wissenschaftlich-technischer, politischer und wirtschaftlicher Art. Neben der bereits genannten Notwendigkeit einer Effizienzsteigerung werfen vor allem die Speicherung und der Transport von Energie solche offenen Fragen auf. Von ihrer Beantwortung hängt letztlich ab, wie stark die volatile Komponente relativ zur Grundlastkomponente ist.

Überregulierung blockiert den Umbau

Genau in diesen Bereichen aber gibt es den größten wissenschaftlichen und technischen Handlungsbedarf, insbesondere was die Möglichkeiten der chemischen Energiespeicherung betrifft. Denn die Nutzung der fossilen Energieträger Kohle und Gas bedeutet ja nicht nur die Ausbeutung über Jahrmillionen aufgespeicherter Sonnenenergie. Kohle und Gas bieten außerdem den Vorteil von Energieträgern mit enorm hoher Energiedichte, der auch einem zukünftigen Energiesystem zugute käme, etwa wenn es gelänge, Energie effektiv in Wasserstoff zu speichern. Zugleich eröffnen sich neue Fragen der Gestaltung eines auf neuen chemischen Energieträgern beruhenden globalen Energiemarktes. Wie etwa lässt sich die hohe Sonneneinstrahlung in den Sun Belts dieser Welt in einen solchen Markt einbeziehen? Welche Rolle können große Waldgebiete für die Speicherung von Energie in Biomasse spielen?

Eine besondere Herausforderung ist die Entwicklung neuer Steuerungsmechanismen. Viele Handlungsmöglichkeiten werden bislang durch Überregulierung blockiert. Neue Regelungsmöglichkeiten müssten erst erprobt werden. Doch dazu bräuchte es eine Art Experimentierklausel für den Umbau des Energiesystems. Hier sind bisher hauptsächlich wirtschaftliche und politische Mechanismen diskutiert worden, ohne zu sehen, dass sie letztlich nur verschiedene Antworten auf die grundlegendere Frage bieten: Wie kann kollektives Handeln durch Wissen über lokale und globale Randbedingungen des Erdsystems gesteuert werden? Das ist die Frage nach der Möglichkeit einer Wissensökonomie, die sich weder auf intransparente technokratische Steuerung noch ausschließlich auf die durch mächtige Einzelinteressen oft verzerrten Automatismen des Marktes verlässt.

Das gegenwärtige Energiesystem beruht auf einer technischen Infrastruktur, die – im Sinne einer Plattform – bestimmte Funktionen wie die Konversion, Speicherung und Übertragung von Energie ermöglicht, während sie andere Funktionen wie die Herstellung eines geschlossenen Kohlenstoffkreislaufs nicht garantieren kann. Wie der Biologe Manfred Laubichler gezeigt hat, lassen sich die Energierevolutionen des Erdsystems als „Plattformwechsel“ verstehen: Innerhalb weniger Jahrzehnte brauchen wir eine völlig neue Plattform, die Klimaneutralität ermöglicht und zugleich alle anderen Anforderungen an ein Energiesystem erfüllt. Sie wird voraussichtlich zugleich die Grundlage für eine Vielfalt von Innovationen bieten, und damit auch fundamental neue wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten eröffnen.

Europa ist auf ein Energiesystemwechsel angewiesen

Auf welcher Skala lassen sich die besprochenen Probleme wirksam angehen? Die Antwort wird weitgehend durch die Struktur des Energiesystems selbst bestimmt. Auch das Energiesystem ist letztlich ein globales Netzwerk. Dennoch lassen sich Teilnetze ausmachen, für die sich Regelungsmöglichkeiten durch Industrie- und Infrastrukturpolitik, durch Gesetzgebung sowie durch öffentlichen Diskurs eröffnen. Hier sind Nationalstaaten ebenso sowie supranationale Gebilde wie die Europäische Union gefragt.

Die naturräumlichen Bedingungen in Amerika unterscheiden sich erheblich von denen Europas und damit auch die Interessenlagen hinsichtlich eines zukünftigen Energiesystems. In den USA gibt es keinen Mangel an Sonnenenergie wie in Deutschland, und man wird dort auch noch weitaus länger als bei uns von fossilen Brennstoffen leben können. In Deutschland und Europa dagegen besteht das größte Interesse an einem Energiesystemwechsel. Die Alternative wäre eine steigende Abhängigkeit von Energieimporten, insbesondere aus Russland und China, und damit der Verzicht auf entscheidende Gestaltungsmöglichkeiten. Denn ist eine solche Abhängigkeit erst etabliert, sinken auch hier die Chancen für einen Systemwechsel aus eigener Kraft. Daher ist nicht nur aus klimapolitischer Sicht, sondern auch aus geopolitischen Gründen jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen massiven Systemumbau in Angriff zu nehmen. Das Fenster für diese Chance könnte bald zugehen.

Die Schaffung einer neuen Energieplattform würde die Möglichkeit eröffnen, in Bezug auf ökonomische Abhängigkeiten den Spieß umzudrehen, und nicht die Energie, sondern die Komponenten eines neuen Energiesystems zu einem internationalen Exportschlager zu machen. Wir sollten auf eine offene Zukunft setzen, das dazu notwendige neue Wissen erarbeiten und innovative Technologien als Teil einer neuen klimaneutralen Plattform entwickeln. Eine solche wird allerdings nicht durch eine zögerliche Energiewende entstehen, sondern kann nur das Ergebnis einer nationalen und europäischen Anstrengung sein. Zugleich könnte ein neues Energiesystem in Deutschland und in Europa zu einem Musterfall für den weltweit notwendigen Umbau werden. Insofern wäre neue Energie für Deutschland auch ein Beitrag zur Lösung der globalen Nachhaltigkeitsprobleme.

Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Robert Schlögl ist Gründungsdirektor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion. Dieser Text erschien zuerst am 4. März 2018 in der gedruckten Beilage „130 Jahre Urania“ des Tagesspiegels.

Jürgen Renn, Robert Schlögl

Zur Startseite