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Besser üben. Fachleute empfehlen bei Leseschwäche ein an den Symptomen ansetzendes Training. In einem in Bremen positiv evaluierten Projekt lesen Kinder Tieren vor – weil sie dabei befreiter als vor Menschen agieren und Ängste überwinden können.

© picture alliance / dpa

Lese-Rechtschreibschwäche: Vom Hören zum Lesen

Bei einer Dyslexie arbeitet das Gehirn nicht wie gewohnt. Viele Hilfsmittel erweisen sich indes als nutzlos, ein gezieltes Training könnte betroffenen Kindern aber helfen.

Mama, Papa, Schaukeln, Arm, Eis haben: Kleinkinder lernen normalerweise ganz automatisch und mühelos, ihre Bedürfnisse in Worte zu fassen – auch wenn derzeit viel (und zu Recht) über die optimalen Bedingungen für eine gute Sprachentwicklung diskutiert wird. Anders als mit dem Sprechen steht es mit den vergleichsweise neuen Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das sind Kompetenzen, die die meisten Menschen durch Unterricht erwerben, klassischerweise in der Schule.

Doch ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung sitzt trotz guter Ausbildung auch im Erwachsenenalter zermürbt vor längeren E-Mails und greift, statt SMS zu schreiben, lieber schnell zum Telefonhörer. Vom Lesen dicker Sachbücher und Romane ganz zu schweigen. Nicht, dass es gar nicht ginge. Es geht bei einer Lese-Rechtschreib-Störung nur meist zeitlebens deutlich langsamer, macht mehr Mühe, ist mit mehr Fehlern und weniger Spaß verbunden.

Dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen

Inzwischen ist erwiesen, dass der Quälerei mit dem Lesen und dem korrekten Schreiben neurobiologische Besonderheiten zugrunde liegen, die ihrerseits genetische Grundlagen haben. Die Ergebnisse kamen in den letzten Jahren vor allem von der modernen Bildgebung, die es erlaubt, dem Gehirn „bei der Arbeit zuzuschauen“. Allerdings ist es schwer, die Einzelbefunde zu einem Gesamtbild zu ordnen: Das Netzwerk in unserem Kopf, das die menschheitsgeschichtlich noch sehr junge, für unsere Kultur aber extrem wichtige Kulturtechnik ermöglicht, ist ausgedehnt und kompliziert. Sicher spielen Faktoren wie Aufmerksamkeit und optische Wahrnehmung eine Rolle, doch die Forscher interessieren sich inzwischen zunehmend für Hirnareale, die für die Verarbeitung von Höreindrücken und das Herstellen einer Beziehung zwischen Lauten und Schriftzeichen wichtig sind.

So haben Forscher des Uniklinikums Aachen und des Forschungszentrums Jülich auf der Suche nach neurobiologischen „Fingerabdrücken“ der Leseschwäche (fachsprachlich: Dyslexie) Kinder und Jugendliche zum Lesen in den funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) gesteckt. Dabei stellten sie fest, dass bei „Normallesern“ die linke Hemisphäre der Großhirnrinde konstant aktiv ist, während deren Aktivität bei Heranwachsenden mit Dyslexie stark schwankt, die rechte Seite dagegen stabil arbeitet.

Aktivität im linken Stirnlappen

In einer zweiten, detaillierteren Untersuchung mit Übungen zu Sprachlauten fanden sie anschließend, dass gute Leser im linken Stirnlappen des Großhirns stärkere Aktivierungsmuster zeigten. Die Schweizer Forscherin Silvia Brem wiederum interessierte sich für die Gehirne von Vorschülern und stellte fest, dass diejenigen unter ihnen, die ein paar Jahre später eine Lese-Rechtschreibschwäche zeigen sollten, auf sprachliche Reize eher mit einer Aktivierung von Hirnarealen reagieren, die für das Erkennen von Gesichtern zuständig sind. Regionen für das Verarbeiten von Höreindrücken waren dagegen bei ihnen weniger aktiv.

Schon seit mehr als 20 Jahren gibt es Hinweise darauf, dass auch Hirnareale „unterhalb“ der Großhirnrinde involviert sind, wenn Menschen das Lesen vergleichsweise schwer fällt. Die Befunde dieser Ära vor der modernen funktionellen Bildgebung stammen allerdings nicht von lebenden, lesenden Versuchspersonen, sondern aus Untersuchungen der Gehirne Verstorbener. Die Neurowissenschaftlerin Katharina von Kriegstein vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat sie inzwischen mittels fMRT untermauert: Sie hat mit ihrem Team insgesamt 28 erwachsenen Probanden mit und ohne Lese-Schwierigkeiten beim Lösen verschiedener Aufgaben zugeschaut.

Probleme, Gesprochenes schnell zu analysieren

Die Forscher fanden heraus, dass der kleine linke mediale Kniehöcker des Thalamus, eines für die Hör-Signale zuständigen Teils der Hörbahn im Zwischenhirn, bei Menschen mit einer Leseschwäche weniger aktiv ist, wenn sie die Aufgabe bekommen, Laute zu identifizieren. Geht es darum, andere sprachliche Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, zeigt sich dieser Unterschied nicht. Die Forscher vermuten, dass die Betroffenen wegen dieser Besonderheit Probleme beim schnellen und gleichzeitig genauen Erkennen und Analysieren von Gesprochenem haben.

Von Kriegstein ist überzeugt davon, dass die beiden vorherrschenden theoretischen Ansätze zur neurobiologischen Erklärung der Lese-Störung sich vereinbaren lassen: „An der Dyslexie sind Strukturen unterhalb und innerhalb der Großhirnrinde beteiligt.“

Viele vermeintliche Hilfen sind nutzlos

Das Verständnis der kleinen Unterschiede bei der Verarbeitung von Höreindrücken im Gehirn könnte langfristig in gezieltere Trainingsprogramme für Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche münden. Viele Angebote, zu denen verzweifelte Eltern heute greifen, zeigen nämlich in methodisch sauberen, Placebo-kontrollierten Studien keinen Nutzen. In einer kürzlich unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (DGKJP) erschienenen Leitlinie verschiedener Fachgesellschaften zur Legasthenie versuchen die Fachleute, bei den angebotenen Hilfen und Therapien die Spreu vom Weizen zu trennen.

Bei Kindern, die normal sehen und hören, helfen weder allgemeine Seh- und Hörtrainings, noch farbige Filterfolien oder Speziallinsen und Biofeedback. Auch das leistungssteigernde Medikament Piracetam, Nahrungsergänzungsmittel, homöopathische Behandlung oder Osteopathie erwiesen sich als wirkungslos. „Nur mit diesem Wissen kann zukünftig vermieden werden, dass Kinder und ihre Eltern vergeblich viel Zeit mit Üben in Schulen und außerschulischer Förderung verbringen, ohne dass das Kind einen Lernzuwachs erzielt“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne von der Universität München, der die Arbeit an der Leitlinie koordinierte.

Experten raten zu gezieltem Training

Lese-Rechtschreibstörung, isolierte Lesestörung und isolierte Rechtschreibstörung sind im medizinischen Diagnosemanual IC-D 10 unter F 81.0 und F 81.1 aufgelistet. Die Diagnose bildet die Grundlage für eine partielle „Sonderbehandlung“ der betroffenen Schülerinnen und Schüler. „Die Befürchtung seitens einzelner Pädagogen, dass mit der Diagnosestellung eine schulische Förderung und Behandlung verhindert wird und dass die Betroffenen sich in Folge nur noch in ihr Schicksal ergeben müssen, ist dagegen vollkommen unbegründet“, sagt Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und stellvertretender Präsident der DGKJP.

Was speziell die Unterstützung beim Lesen-Lernen betrifft, so können die Fachleute das gezielte, an den Symptomen der Betroffenen ansetzende Training des Zusammenhangs von Buchstaben und Lauten, Phonemen und Silben empfehlen. In einer Metaanalyse, die die Münchner Dyslexie-Spezialistin Katharina Galuschka 2014 vorlegte, haben sich allein solche Programme als wirksam erwiesen. Neuroforscherin Katharina von Kriegstein wiederum hält es für sehr wahrscheinlich, dass derartige Übungen, die mit der phonologischen Bewusstheit in Zusammenhang stehen, auch auf die Aktivität in der von ihr identifizierten Hirnregion Einfluss nehmen.

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