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Gedenken am Gleis 17 unweit des Berliner S-Bahnhofs Grunewald. 

© Thilo Rückeis

Lernen und Wohnen am Mahnmal: Gedenk-Campus in Grunewald geplant

Unweit des Mahnmals Gleis 17, das an die deportierten Berliner Juden erinnert, soll Geschichtsvermittlung und Gedenkkultur erforscht werden.

In Sichtweite des Mahnmals Gleis 17 am Bahnhof Grunewald soll ein Campus für Gedenken, Forschung und studentisches Wohnen entstehen. Wie der Tagesspiegel von der Moses-Mendelssohn-Stiftung erfuhr, ist der Else-Ury-Campus unweit des Ortes geplant, an dem an tausende Berliner Jüdinnen und Juden erinnert wird, die in der Zeit des Nationalsozialismus ab Herbst 1941 vom Gleis 17 mit Zügen der Deutsche Reichsbahn deportiert wurden. 

Am historisch authentischen Ort

Von einem „innovativen und integrativen Ausstellungs-, Vermittlungs- und Wohnkonzept“ spricht der Vorstandsvorsitzende der Mendelssohn-Stiftung, der Historiker Julius H. Schoeps.  Auf dem geplanten Campus könnten Studierende unterschiedlicher Disziplinen und aus verschiedenen Ländern – darunter auch Israel – gemeinsam wohnen und lernen.

„Einen historischen Gedenk- und Erinnerungsraum direkt und im übertragenen Sinne vor Augen, sollen sich angehende Geistes- und Naturwissenschaftler mit diesem historisch authentischen Ort intellektuell auseinandersetzen“, erklärt Schoeps, der Gründungsdirektor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam (MMZ) ist.

Zentrum zur Erforschung der Gedenkkultur

Am Gedenkort im Grunewald soll gleichzeitig ein Zentrum zur Erforschung der Gedenkkultur entstehen. Die Mendelssohn-Stiftung habe für das Vorhaben das an das Mahnmal Gleis 17 angrenzende Gelände in diesen Tagen erworben.

[Niemals vergessen! Wo Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, mit Stolpersteinen und kleineren Gedenkorten in Kiezen und Ortsteilen, können Sie hier auf einer interaktiven Karte sehen: https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/niemals-vergessen]

In einer ersten Phase wolle man im Erdgeschoss in einem der drei geplanten Gebäude eine Dauerausstellung zu den geschichtlichen Hintergründen des Mahnmals Gleis 17 präsentieren, sagt Schoeps. Die Ausstellung solle kontinuierlich durch die auf dem Campus lebenden Studierenden betreut werden. Für sie ist ein Appartementhaus mit 150 Wohneinheiten geplant. Zielgruppe der Ausstellung sind Schoeps zufolge vor allem auch Schulklassen.

Der geplante Else-Ury-Campus unweit des Mahnmals in Berlin-Grunewald.
Der geplante Else-Ury-Campus unweit des Mahnmals in Berlin-Grunewald.

© Tagesspiegel/Rita Böttcher; Moses-Mendelssohn-Stiftung

„Parallel dazu soll eine interaktive auf Dokumenten und Forschungsarbeiten basierende Datenbank aufgebaut werden, die die Biografien und Schicksale der von Gleis 17 deportierten Menschen in Erinnerung ruft“, sagt Schoeps. Langfristig sollen auf dem Campus neue Konzepte für die Geschichtsvermittlung und Gedenkkultur erarbeitet werden, von acht bis zehn Stipendiaten der Mendelssohn-Stiftung. Die Nachwuchswissenschaftler sollen in Kooperation mit Hochschulen der Region betreut werden.

Kooperation mit Yad Vashem

Als weitere Kooperationspartner nennt die Mendelssohn-Stiftung unter anderem die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, die Jewish Claims Conference und die Ständige Konferenz der NS-Gedenkorte im Berliner Raum. Mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Jüdischen Gemeinde Berlin sollen zeitnah Gespräche geführt werden.

Der zuständige Bezirksstadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne) begrüßt auf Anfrage das „inhaltlich schöne Projekt“, das der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf befürworte. Es ergänze sich auch mit Vorhaben des Bezirks zum jüdischen Leben in Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Frage der Nähe zum Mahnmal müsse die Stiftung nun mit der Jüdischen Gemeinde klären. 

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Unterstützung für das Projekt haben Schoeps zufolge auch Vertreter des Landes Berlin und des Bundes signalisiert. Die Stiftung will das Vorhaben mit eigenem Personal und Projektmitteln betreiben.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Dieter Gröhler zeigt sich von der Idee des Else Ury-Campus fasziniert. „Weil das Mahnmal Gleis 17 zurzeit zu wenig Beachtung findet“, sagte er dem Tagesspiegel. Die bloße Möglichkeit an dem Gleis zu stehen, reiche nicht aus, um den nachfolgenden Generationen Ursprung und Durchführung der Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland begreiflich zu machen. „Der Campus könnte ein Ort der Begegnung und des Lernens werden, der mithilft, auch in Zukunft die Wiederholung einer solchen Barbarei zu verhindern.“

Vom Bahnhof Grunewald aus schickten die NS-Behörden seit dem 18. Oktober 1941 Deportationszüge in Richtung Osten. Bis zum Kriegsende wurden über 50 000 Juden von dort aus in Arbeits- und Konzentrationslager deportiert, wo sie zum Großteil ermordet wurden.

Die Züge gingen nach Riga und Warschau sowie in die Lager Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt. Seit 1991 erinnert eine Betonmauer mit Negativabdrücken menschlicher Körper an die langen Wege und Märsche zu den Deportationsbahnhöfen.

Datenbank mit Biografien der Deportierten

Das Pilotprojekt der Mendelssohn-Stiftung ist nach der Kinderbuchautorin Else Ury (1877-1943) benannt, Autorin der seinerzeit weit verbreiteten Kinderbuchreihe „Nesthäkchen“. Else Ury wurde im Alter von 65 Jahren von Berlin aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort am 13. Januar 1943 ermordet. 

Mit Else Ury als Namensgeberin will man an eine wichtige, aber heute weitestgehend vergessene Vertreterin des deutschen Judentums erinnern. Neben der Dauerausstellung soll die Datenbank mit Biografien der Deportierten auch eine neue Form des Gedenkens ermöglichen. „Wir wollen, dass hinter den nackten Zahlen, die Menschen sichtbar werden“, sagt Schoeps.

Der Historiker Julius H. Schoeps.
Der Historiker Julius H. Schoeps.

© MMZ / Thomas Heil

Im Mittelpunkt der Arbeit auf dem Campus soll die Fragen stehen, wie künftig die „Marksteine der Vergangenheit“ vermittelt werden und wo beim Gedenken die Schwerpunkte zu setzen sind, erklärt die bei der Moses Mendelssohn-Stiftung für das Projekt verantwortliche Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Elke-Vera Kotowski. Ein Seminar dazu plant sie im Wintersemester an der Uni Potsdam zusammen mit Studierenden aus Berlin.

In Anlehnung an die „Allee der Gerechten“ in Yad Vashem in Jerusalem soll im Grunewald zudem ein „Hain der Gerechten“ entstehen. Dort soll jener Menschen gedacht werden, die sich trotz der drohenden Sanktionen durch die NS-Diktatur der verfolgten Jüdinnen und Juden angenommen haben. 

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