zum Hauptinhalt
Deutschland hat ein Bildungs- Déjà-vu.

© Peter Steffen/dpa

Leistungsniveau von Viertklässlern gesunken: Das System Schule fährt erneut vor die Wand

Eine neue Studie zeigt massive Lernrückstände bei Viertklässlern. Deutschland muss darauf reagieren und Personal in Grundschulen bündeln. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Vieth-Entus

Deutschland hat ein Bildungs- Déjà-vu. Die neueste Länderstudie über die (Un-)Fähigkeiten der Viertklässler im Lesen, Zuhören, Schreiben und Rechnen versetzt die Republik zurück in das Jahr 2001, als die Internationale Pisa-Studie das deutsche Schulwesen erschütterte: Die wichtigsten Eckwerte sind sich zum Verwechseln ähnlich. So, als hätte es seit jener Zeit keine einzige Reform gegeben.

Die Bildungsforscher legen sich noch nicht fest, inwieweit die Pandemie und die seit 2015 verstärkte Zuwanderung dazu geführt haben, dass die Gruppe der sogenannten Risikokinder erneut auf ein Fünftel der Gesamtzahl gestiegen ist.

Beide Ereignisse haben das Ergebnis aber mit Sicherheit ungünstig beeinflusst – und das Tal dürfte noch nicht erreicht sein. Denn nach der Durchführung der Tests waren die Einschränkungen der Pandemie keineswegs vorbei: Es gab weiter hohe Krankenstände und Wochen ausgesetzter Präsenzpflicht, die vor allem den sozial Benachteiligten, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nicht gut tat.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Es war 2001 eine der zentralen Botschaften, dass in Deutschland der Schulerfolg viel zu stark von der Herkunft abhängt. Seither wurden Milliardenbeträge in den Kitaausbau, in schulische Ganztagsprogramme und zusätzliche Schulstunden gepumpt. Die meisten Länder verabschiedeten sich von den Hauptschulen, in der Hoffnung, die schwachen Schüler würden damit von selbst verschwinden.

Und ein Großteil der Bildungsforschung befasst sich seither mit nichts anderem mehr als mit dem Messen von Kompetenzen. Nach all dem lautet die traurige Erkenntnis heute aber nur: Das deutsche Schulsystem ist weder merklich besser noch gerechter geworden.

Denn wenn es besser und gerechter geworden wäre, hätten weder ein Jahr Pandemie noch vermehrte Zuwanderung derartige Negativausschläge zur Folge. Wenn es besser und gerechter geworden wäre, würde das System nicht erneut dermaßen gegen die Wand fahren – und mit ihm zwei Millionen von zehn Millionen Schülerinnen und Schülern.

[Lesen Sie auch: Lernlücken nach Corona und wie Eltern helfen können: „Macht mit euren Kindern viele schöne Dinge!“ (T+)]

Und dieser bedrückende Befund wird auch nicht dadurch erträglicher, dass Viertklässler getestet wurden, die noch mindestens sechs weitere Schuljahre Zeit zum Lernen und Aufholen haben. Vielmehr lehrt die Erfahrung, dass genau das so nicht passieren wird.

Stattdessen kommen nach dem Ende der vierten Klasse viel zu viele Grundschüler mit massiven Defiziten an die weiterführenden Schulen, die aber nicht darauf eingestellt sind, erstmal Basiskenntnisse im Rechnen, Schreiben oder Lesen nachpauken zu lassen.

Das Desaster wird vom Lehrermangel flankiert

Damit ist die Sache klar: Aus den Zehnjährigen werden Jugendliche, die Schule schnell satthaben – einen Ort, der ihnen außer Misserfolgen nichts zu bieten hat. Und das in einem Land, dessen Betriebe und Verwaltungen händeringend Nachwuchs suchen. Erschwerend wird dieses absehbare Desaster inzwischen flankiert vom stärksten Lehrkräftemangel seit Jahrzehnten.

Daher bleibt den Ländern nichts anderes übrig, als ihre knappen Personalressourcen gebündelt dorthin zu lenken, wo sie am meisten gebraucht werden: in die Grundschulen, wo die Basis gelegt wird. Damit dieses Gemeinwesen nicht hilf- und tatenlos zuschaut, wie es einen Großteil seines Nachwuchses in ein Leben mit Hartz IV entlässt, ist eine Konzentration der schwindenden Mittel nötig.

Das kann auch bedeuten, dass kleine feine Kurse in den gymnasialen Oberstufen nur noch in digitalen Schulverbünden stattfinden können. Deutschland muss sich aufs Grundlegende, auf die ersten vier Schuljahre konzentrieren, damit sich daraus Exzellenz entwickeln kann.

Zu schwarz gemalt? Eher nicht. Es war der damalige Arbeitgeberpräsident, der im Angesicht von Pisa im Winter 2001 von einer „neuen Bildungskatastrophe“ sprach. Es war der IHK-Präsident, der damals raunte, „schlimmer hätte es nicht kommen können“. Im Sommer 2022 wissen wir, dass es sehr wohl schlimmer geht, denn inzwischen sind Milliardenbeträge weg – und viel zu viele Lehrer auch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false