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Eine Arbeiterin steht in einer chinesischen Seidenfabrik an einer Maschine, an der Seidenfäden gewonnen werden.

© imago/Frank Sorge

Leibnizpreisträgerin Dagmar Schäfer: Was wir über China zu wissen glauben

Die Berliner Sinologin Dagmar Schäfer fordert eine globale Perspektive in der Wissenschaftsgeschichte. Der hochdotierte Leibnizpreis bestärkt sie darin.

Ein Praktikum in einer chinesischen Seidenfabrik? Als sich die deutsche Studentin der Sinologie und Japanologie Anfang der 1990er Jahre aus Würzburg auf den Weg nach China macht, klingt das ziemlich verrückt. Doch Dagmar Schäfer ergattert tatsächlich einen Platz. Eigentlich will sie Journalistin werden, plant, über die Arbeit in der Fabrik einen Artikel zu schreiben.

Dann aber fängt die Nachwuchswissenschaftlerin an, sich theoretisch und historisch in das Thema zu vertiefen. „Ich stellte fest, dass es sehr spannend ist, wie sich Techniken bewahren oder verändern.“ Am Ende entsteht eine ganze Doktorarbeit: Das Buch „Des Kaisers seidene Kleider. Staatliche Seidenmanufakturen in der Ming-Zeit (1368-1644)“ erscheint 1998. Es ist der Anfang einer fulminanten Wissenschaftskarriere.

Schon zu Beginn ihres Studiums verbringt Schäfer zwei Jahre in China – keineswegs eine akademische Selbstverständlichkeit. Sie habe sich regelrecht „verguckt“ in die dortige Kultur, erzählt sie. Ihr Doktorvater vertritt damals die Meinung, man müsse eine Technik zunächst verstehen, bevor man ihre Geschichte studieren könne. Das kommt Schäfer entgegen: „Ich war immer ein praktisch orientierter Mensch.“

Technikgeschichte Asiens separat von der Europas betrieben

Der Umgang mit dem Konkreten – mit alten Quellen, Bildern, Objekten – prägt nicht nur ihre Anfänge als Forscherin. Die Technikgeschichte Chinas bleibt auch in den folgenden Jahren ihr großes Thema, obwohl das damals noch weit abseits des Forschungsmainstreams liegt.

Spätestens seit Dezember 2019 weiß Dagmar Schäfer, dass sie alles richtig gemacht hat: Die Berliner Sinologin ist mit dem diesjährigen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis geehrt worden. Es ist der angesehenste Forschungspreis in Deutschland; jährlich wird er an zehn Forscher vergeben. Dagmar Schäfer, die seit 2013 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Dahlem arbeitet, ist eine von zwei Frauen, die 2020 ausgezeichnet wurden.

Ein Porträt von Dagmar Schäfer.
Dagmar Schäfer, Sinologin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Trägerin des Leibnizpreises.

© DFG/David Ausserhofer

Tatsächlich bewegte sich die China-Expertin viele Jahre in einer kleinen Nische innerhalb ihres Fachs. Die Technik- und Wissenschaftsgeschichte Asiens wurde vor 20 Jahren völlig separat von der Europas betrieben, erinnert sich Schäfer. Und: „Wissenschaftsgeschichte war eines der eurozentristischsten Fächer überhaupt.“ Denn in Europa, so die Grundannahme der Historiker, seien doch die modernen Wissenschaften erfunden worden. Hier lebte und wirkte schließlich ein Leonardo da Vinci, ein Galileo Galilei. „Noch Ende des 20. Jahrhunderts hatte man in Europa einen recht engen Blick darauf, was Wissen und Wissenschaft ist. Das hat sich mittlerweile verändert“, sagt Schäfer.

Doch dieser selbstsichere Diskurs wurde mehr und mehr von Fragen zerlöchert: Was bezeichnet man überhaupt als „Wissen“? Was ist überhaupt ein „Fakt“? China habe „ein ganz anderes Verständnis von seiner Wissenschaft und Wissenschaftskultur“, erklärt die geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Auch in Europa sind die Wissenschaften im 21. Jahrhundert selbstreflexiver geworden. Sie blicken zunehmend kritisch auf ihre eigenen Voraussetzungen, Arbeitsbedingungen und impliziten Annahmen.

Schäfer untersucht, wie über Technologie-Entwicklungen geurteilt wird

Das zeige sich auch in der aktuellen Situation, meint Schäfer. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen stehen seit der Coronakrise im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Doch anders als vor 30 oder 40 Jahren treten sie kaum noch als unangreifbare Koryphäen auf. „Heute spricht man viel bewusster über die Vielfalt der Möglichkeiten und die unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkel.“ Schäfer findet es positiv, dass auf diese Weise „die Relativität der Wissenschaften“ sichtbar wird. Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz selbstverständlich die Grenzen des eigenen Wissens und der eigenen Expertise thematisieren. Das sei ein wichtiges Verdienst der Geisteswissenschaften, die diese Haltung in den letzten Jahren forciert und in andere Fächer hineingetragen hätten.

Schäfers China-Forschungen haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Wie unterschiedlich Wissen festgehalten und weitergegeben werden kann – das beschäftigt die 51-Jährige seit vielen Jahren. Sie untersucht beispielsweise, wie über technologische Entwicklungen gesprochen und geurteilt wird. Außerdem schaut sie auf Materialien, Prozesse und Strukturen. Welche Rolle spielen Texte, Textilien oder andere Artefakte bei der Verbreitung technologischer Erkenntnisse? 2011 ist Schäfers Buch „The Crafting of the 10 000 Things: Knowledge and Technology in 17th-century China“ erschienen, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Studie sei „von grundlegender Bedeutung für die Globalgeschichte“, lobt die Jury des Leibniz-Preises, da sie chinesische und europäische Entwicklungen im 17. Jahrhundert ausgewogener miteinander in Beziehung setze.

Eine feierliche Preisverleihung hat es bisher übrigens nicht gegeben. Sie hätte Mitte März stattfinden sollen, wurde aber wegen Corona kurzfristig abgesagt. Auch das Interview für diesen Text kann nicht persönlich, in Schäfers Büroräumen an der Boltzmannstraße, sondern nur telefonisch stattfinden. Doch Dagmar Schäfer hadert nicht damit, dass ihr Moment großen wissenschaftlichen Ruhms ausgerechnet in den Zeitraum von Kontakt- und Veranstaltungsverboten fällt. „Es kamen Gratulationen aus aller Welt“, sagt sie, der deutsche Preis werde international sehr aufmerksam wahrgenommen.

Millionen von Quellen zum alten China - und alle digitalisiert

Aktuell arbeitet die Forscherin an einem Buch über verschiedene Wissensformen, für das sie Historiker, Soziologinnen und Anthropologen zusammengebracht hat. In China stehen Schäfer und ihrem Team dafür massenhaft digitalisierte Quellen zur Verfügung: Wo man in Europa vielleicht ein paar hundert mittelalterliche Quellen zu einem Thema – verstreut über verschiedenste Archive – findet, sind es in China Millionen. „Das ist eine völlig andere Dimension.“

Zum einen wurde im Reich der Mitte deutlich mehr kulturelles Erbe bewahrt, zum anderen in den vergangenen Jahren extrem viel digitalisiert. Dahinter stecke natürlich ein Staatsinteresse, sagt Schäfer. Dennoch verändert das die Voraussetzungen für historische Forschungen massiv. Wissenschaftler können auf riesige Datenpools zugreifen und diese digital durchforsten.

Mit dem Leibniz-Preisgeld – 2,5 Millionen Euro – will Dagmar Schäfer ihren bisherigen Weg fortsetzen. Die Wissenschaftsgeschichte sei immer noch zu sehr an der Moderne orientiert. Sie werde daher in Projekte investieren, die sich mit der Antike, dem Mittelalter oder der Vormoderne beschäftigen. „Außerdem möchte ich weiter über die Diversität von Wissen nachdenken.“ Dass die Coronakrise ihre Forschungen in Zukunft nachhaltig behindern wird, glaubt Schäfer nicht. Im September 2020 hofft sie wieder nach China einreisen zu können.

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