zum Hauptinhalt
Dass Nadine Großmann an ihrer eigenen Erkrankung forschen kann, sieht sie als Privileg.

© Foto: Patrick Wack

Leben mit einer Seltenen Erkrankung: Jeder Piks ist eine Bedrohung

Nadine Großmann forscht an der FU für ihre Doktorarbeit – über die Erkrankung, die sie selbst immer mehr einschränkt.

Als ihrer Mutter der veränderte Gang auffällt, ist Nadine Großmann aus Grenzach bei Basel 13 Jahre alt. Plötzlich hinkte sie beim Gehen. Wo sie sich verletzt haben könnte, wusste sie nicht, und Schmerzen hatte sie keine. Grund für die veränderte Gangart: Zwischen Hüfte und Oberschenkel war ein neuer Knochen gewachsen und blockierte nun ihr Gelenk. 

Die Ärzte wussten nicht, was die Ursache dafür sein konnte, und entfernten den zusätzlichen Knochen. Als er wieder nachwuchs, entfernten sie ihn ein weiteres Mal. Erst nach zwei Jahren stellte ein Kinderarzt die richtige Diagnose: Fibrodysplasia ossificans progressiva (kurz: FOP), auch bekannt unter dem Namen Münchmeyer-Syndrom.

Operationen bedeuten ein großes Risiko

Menschen mit FOP leiden unter einem seltenen Gendefekt, der dazu führt, dass die Zellen des Bindegewebes nach Verletzungen kein normales Narbengewebe entwickeln, sondern an der betroffenen Stelle Knochen aufbauen. Auch auf kleinste Verletzungen, etwa durch eine Spritze, kann das Gewebe mit Knochenbildung reagieren. Es entsteht eine Art zweites Skelett. 

Stück für Stück werden die Gelenke so immer unbeweglicher, der Körper versteift. Trotz der Diagnose operierte man die junge Frau einige Jahre später erneut, um den Knochen dann in einer besseren Position für die Wirbelsäule nachwachsen zu lassen. „Diese OP hätte auf keinen Fall mehr durchgeführt werden dürfen“, weiß Nadine Großmann heute. Auch eine weitere OP fünf Jahre später hält sie im Nachhinein für fahrlässig. 

Die 30-Jährige ist mittlerweile selbst Spezialistin für FOP. Nach dem Bachelor in Biologie kam sie für ihren Master an die Charité und von dort an das Institut für Chemie und Biochemie an der FU Berlin, wo sie seit 2019 für ihre Doktorarbeit forscht. Ihr Thema ist die Krankheit, unter der sie selbst leidet. „In meiner Doktorarbeit geht es um den molekularen Mechanismus bei Fibrodysplasia Ossificans Progressiva“, erklärt sie. „Ich möchte verstehen, warum genau die Verknöcherungen entstehen.“

Bis zur Diagnose einer Seltenen Erkrankung braucht es oft Jahre

Mit weltweit etwa 700 Betroffenen gehört FOP zu den Seltenen Erkrankungen, an denen in Deutschland vier Millionen Menschen leiden. Laut dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands dauert es im Schnitt fünf Jahre, bis eine Seltene Erkrankung diagnostiziert wird. Die meisten Seltenen Erkrankungen sind chronisch, fortschreitend, unheilbar – und wirken sich stark auf den Alltag der Erkrankten und ihrer Angehörigen aus, wie eine 2017 durchgeführte Studie des ACHSE e.V. (kurz für: Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) zeigte. Ein Großteil fühlt sich, wie Nie Nadine Großmann, unzureichend über Spezialisten und mögliche Unterstützung informiert.

Dass sie an ihrer eigenen Erkrankung forschen kann, sieht Nadine Großmann als Privileg. Sie habe Einblicke in den Forschungsstand, die sie ohne den professionellen Hintergrund nicht hätte, und könne umgekehrt Wissen und Erfahrungen in die Arbeit einbringen. Sie bezeichnet sich selbst als leidenschaftliche Wissenschaftlerin, die sich während der Arbeit vom eigenen Bezug dazu distanziere. Trotzdem sei es emotional manchmal hart, etwa wenn ein erhofftes Ergebnis ausbleibe. „Weil man sich bei manchen Sachen viel erhofft – dann ist es nicht so einfach“, sagt sie.

Eine Coronainfektion ist gefährlich – eine Impfung auch

In den letzten zwei Jahren war Nadine Großmann allerdings kaum im Labor. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zog sie sich komplett zurück, blieb von März bis Juli allein in ihrer Wohnung. Eine Coronainfektion birgt ein hohes Risiko für FOP-Patienten. Virale Infektionen können Schübe von Knochenwachstum auslösen, oft ist aufgrund eines verknöcherten Brustkorbs die Lungenkapazität schon früh eingeschränkt. Impfen lassen kann Nadine Großmann sich nicht, denn auch die Injektion kann zum Schub führen. 

Trotzdem sind einige FOP-Erkrankte das Risiko eingegangen, weiß sie. Auch sie selbst hat es versucht, doch die erste Impfung löste gleich Symptome aus. Die Selbstisolation habe sie stark mitgenommen, erinnert sich Großmann: „Ich kann viel ertragen, aber das war einfach zu viel.“ 

Soziale Kontakte hält sie seitdem digital aufrecht, persönlich getroffen, sagt sie, habe sie vielleicht zweimal im Jahr jemanden. Noch 2020 zog sie vorübergehend zu ihrer Mutter nach Süddeutschland, wo sie abgesehen von einer Laborphase im letzten Jahr bis heute wohnt.

„Ich lebe jeden Tag bewusst“

Ihre Lebenslust verloren hat sie trotzdem nicht. Wenn sie nicht im Labor sein kann, arbeitet sie im Homeoffice, wertet Laborergebnisse aus. Gerade bewirbt sie sich für einen Austausch in die USA, beim weltweit einzigen Research Center für FOP. Wenn es für sie wieder möglich ist, will sie endlich wieder reisen und sich sorglos mit Familie und Freunden treffen. Das Wissen, dass ihre Gelenke über Nacht eingesteift werden können, macht ihr keine Angst. Im Gegenteil: „Umso mehr lebe ich jeden Tag bewusst. Ich rege mich nicht über Kleinigkeiten auf, sondern freue mich über Kleinigkeiten“, sagt sie. Das mache FOP-Patienten auch aus.

Nadine Großmann hat das Glück, noch mobil zu sein und arbeiten zu können. Doch ihr Weichgewebe – Muskeln, Sehnen, Bindegewebe – wird langsam zu Knochen. „Man sieht, dass ich stark humple“, sagt sie. „Das schränkt mich ein. Ich kann nicht rennen und nur mühsam Treppen steigen. Meine rechte Schulter ist eingesteift, ich kann den Arm nur bis auf Schulterhöhe heben.“ Vieles dauere länger. Aber: „Alle Einschränkungen kann ich mit Hilfsmitteln überbrücken.“ Damit ist sie autark, kann selbst für sich sorgen.

FOP kann schon bei Neugeborenen erkannt werden 

Bei den meisten Patienten macht sich FOP dagegen schon im frühen Kindesalter bemerkbar. „Mit 30 sitzen die meisten im Rollstuhl“, sagt Großmann. Warum die Erkrankung bei ihr selbst erst spät Symptome zeigte, weiß sie nicht. Anzeichen gab es aber schon gleich nach der Geburt am großen Zeh. Ein wichtiger Hinweis auf eine FOP-Erkrankung ist ein stark verkürzter und/oder nach innen gebogener Großzeh bei Neugeborenen. Im Fall von Nadine Großmann wussten die Ärzte dies nicht und sagten den Eltern nur, der Zeh wachse sich noch aus.

Nadine Großmann möchte, dass FOP mehr Aufmerksamkeit bekommt, auch damit mehr Patienten gefunden werden, die von ihrer Erkrankung noch gar nichts wissen. Neben der Forschung engagiert sie sich auch im Vorstand der Selbsthilfegruppe „Förderverein für Fibrodysplasia Ossificans Progressiva Erkrankte“. So wünscht sie sich, dass die Überprüfung der Zehen auf die typischen Verformungen ins Neugeborenenscreening aufgenommen wird. „Das dauert nur eine Sekunde „und es macht so viel aus!“, sagt sie.

Seit diesem Jahr gibt es eine erste Hoffnung auf Linderung für FOP-Patienten. In Kanada wurde jetzt das weltweit erste Medikament für die Behandlung von FOP zugelassen, das die Knochenbildung reduzieren soll. Auch in Europa beschäftigen sich klinische Studien mit der Suche nach Heilungsmöglichkeiten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false