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Horn von Afrika. Barfuß heißt mehr Hornhaut - aber gleich viel Gefühl.

© D. Lieberman

Laufforschung: Barfuß mit Gefühl

Barfuß ist „in“, nicht nur während Hitzewellen. Und selbst die dickste Hornhaut bringt offenbar eher Vorteile. Doch man muss nicht ganz auf Schuhe verzichten.

In den Diskussionen um Apps, Robotik und künstliche Intelligenz kommt oft folgende Frage auf: Werden wir alle so langsam zu Cyborgs, also technologisch mehr und mehr ergänzten Lebewesen? Man kann darauf antworten, dass wir das ja längst sind. Nicht nur, wer Herzschrittmacher oder Insulinpumpe mit sich herumträgt, ist bereits ein Mischwesen aus Biologie und Technik, sondern auch jeder Brillenträger – oder eigentlich auch schon jeder und jede, der oder die Kleidung am Leib oder Schuhe an die Füßen hat.

Barfuß mit Schuh

Sohlen und Einlegesohlen schützen vor unangenehmen Temperaturen und mechanischen Einflüssen. Sie führen aber, sagt der Bewegungswissenschaftler Thomas Milani von der TU Chemnitz, auch dazu, dass der Fuß und seine Fähigkeit, Reize aus der Umwelt aufzunehmen, sich anders entwickeln als zu Barfußzeiten.

In jüngerer Zeit ist Barfußlaufen zu einer Art Trend geworden. Tatsächlich sieht man selbst in der Stadt immer wieder auch Leute, die komplett unbesohlt unterwegs sind. Milani nennt es gar einen „Hype“. Und ausgerechnet die Schuhindustrie hat an ihm viel verdient - mit Tretern, die angeblich eine natürliche Bewegung „wie barfuß“ ermöglichen, trotzdem aber vor den allgegenwärtigen Scherben der Sternburg-Flaschen, Hundehaufen und allzu heißen Pflastern schützen sollen. Ein Hauptargument jener Beinahe-Barfüßler, aber auch der ewigen Schuhträger, gegen komplett unbeschuhtes Laufen jedoch ist, dass die sich bildende Hornhautschicht unempfindlicher macht – und damit verletzungsanfälliger.

Olympiasieg auf Hornhaut

Milani, einige seiner Mitarbeiter und weitere Forscher haben jetzt untersucht, ob das wirklich so ist. Jene anderen Forscher stammen nicht nur von Institutionen wie der Harvard-Universität, wie es für das Fachmagazin „Nature“, indem die Studie erscheint, typisch ist. Vielmehr arbeiten sie etwa an der Moi University in Kenia, der University of Global Health Equity in Ruanda und der Addis Abeba University in Äthiopien.

Denn tatsächlich ist alltägliches Barfußlaufen – nicht nur aus dem Grund, sich keine Schuhe leisten zu können – in einigen afrikanischen Ländern noch immer ziemlich verbreitet. Und das ganz ohne Zurück-zur-Natur-Hype. Aus Äthiopien kam auch Abebe Bikila, der Mann, der 1960 den olympischen Marathon barfuß gewann, weil ihm die Laufschuhe abhandengekommen waren. Und auch an die Südafrikanerin Zola Budd erinnert man sich vielleicht noch.

Die als „Kallus“ bezeichnete Hornhautschicht kann bei Leuten, die stets barfuß laufen, bis über einen Zentimeter dick sein, so Milani. Die Tests, in denen Leute mit derart viel und dicker Natursohle mit allzeit wohlbeschuhten Weichsohlenträgern verglichen wurden, brachten folgendes Ergebnis: Den kenianischen und US-amerikanischen Probanden wurden über ein Stößelgerät mit steigender Intensität Reize an ihre Füße übertragen. In dem Moment, da sie erstmals diesen Reiz verspürten, mussten sie einen Knopf drücken. Bei welcher Intensität sie dies taten, war im Mittel aber unabhängig von der Dicke ihrer Hornhaut. Ein nicht unbedingt erwartetes Ergebnis.

Experimentiergerät zu Diagnosegerät

Wie genau es möglich ist, dass der Reiz unabgeschwächt bei den deutlich unterhalb des Kallus sitzenden Nervenenden anzukommen scheint, ist unklar. Dafür wären deutlich kompliziertere Experimente notwendig, etwa mit Messungen direkt an den Nervenzellen. Vielleicht hat die Hornhaut biomechanisch besondere Eigenschaften, die die Weiterleitung des Druckes einigermaßen verlustfrei erlauben. Vielleicht reagieren die Nervenzellen, je dicker der Kallus wird, aber auch in Folge einer Anpassungsreaktion empfindlicher auf Reize. So müsste weniger Stimulus bei ihnen ankommen, um dem Gehirn die entsprechenden Signale zu senden. Verloren gehen diese aber fast komplett, wenn der Mensch Schuhe mit weichen und speziell geformten Sohlen trägt.

Dicke Hornhaut dagegen scheint also, weil man eben alles trotzdem spürt, noch nicht einmal die Gefahr für unerkannte und verschleppte Fußverletzungen mit sich zu bringen. Ein solches Risiko laufen eher Personen, deren Nervenzellen in den Füßen aus Krankheitsgründen – durch einen Diabetes etwa – geschädigt sind. Ihnen ist durch die Experimente nicht direkt geholfen. Milani und sein Team glauben aber, das Gerät, mit dem sie den Probanden die Reize verpasst haben, so weiterentwickeln zu können, dass solche Gefühlsstörungen schon deutlich früher als bisher diagnostiziert werden könnten. Das könnte dann helfen, etwa bei Diabetikern rechtzeitig mit Therapien zu beginnen.

Vegan und plastikfrei

Bleibt die Frage, ob man nun, abgesehen vom tiefsten Winter und Hochzeiten und dergleichen, auf Schuhe verzichten sollte. In einem Kommentar in „Nature“ schreibt der Liverpooler Humanbiologe Kristiaan D’Août, man könne sich durchaus überlegen, zumindest auf Schuhe, die mit dünnen und nicht technologisch aufgemotzten Sohlen auskommen, umzusteigen. Hier sei die natürliche Reizweiterleitung zumindest teilweise noch vorhanden. Und es sei gut möglich, dass dies auch zur Vermeidung von Haltungsschäden auch jenseits der Füße beitragen könnte. Milani stimmt zu. Und er empfiehlt vor allem, Kinder so oft wie möglich barfuß laufen zu lassen „um die Sensorik zu stimulieren, denn alles, was nicht stimuliert wird, wird abgebaut.“

Man kann aber auch aus ganz anderen Gründen auf Schuhe verzichten: weil sie schlicht meist aus tierischem Material sind - was nicht nur Veganer zunehmend zu meiden suchen. Oder aber sie sind aus Plastik, das schon allein durch den Abrieb der Sohlen zu problematischem Mikroplastik wird.

Der Kallus dagegen ist körpereigen, nachwachsend - und voll biologisch abbaubar.

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