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Kind imitiert Brille

© imago/Westend61

Kurzsichtigkeit: Mehr Licht, mehr Sicht

Immer mehr Kinder sind kurzsichtig und brauchen eine Brille. Dabei wäre die Vorbeugung ganz einfach, mahnen Augenärzte. Sie tagen ab Donnerstag in Berlin.

„Kein runter kein fern“, lautet der Titel einer Erzählung von Ulrich Plenzdorf. Er fasst eine – zumindest früher – beliebte Strafe für Kinder zusammen, die sich danebenbenommen hatten: Sie durften nicht draußen spielen, sie durften nicht fernsehen. Wenn sich das zweite Verbot genauso auf die Nutzung anderer Bildschirme bezieht, würden es Augenärzte befürworten – nicht als Strafe, sondern als zeitweilige Beschränkung. Das erste Verbot dagegen ist aus ihrer Sicht geradezu gesundheitsschädlich.

Denn Kinder, die nicht genug ans Tageslicht kommen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, kurzsichtig zu werden, und brauchen bald eine Brille. „Die Lichtmenge ist der entscheidende Faktor“, sagt Wolf Lagrèze, Kinderophthalmologe am Universitätsklinikum in Freiburg. „Weil Tageslicht um den Faktor 100 heller ist als Licht in Innenräumen, empfehle ich Eltern: Schicken Sie Ihre Kinder mindestens zwei Stunden pro Tag raus!“

Der Rat stützt sich unter anderem auf eine Studie, die vor wenigen Wochen im US-amerikanischen Ärzteblatt „JAMA“ veröffentlicht wurde. Nicht umsonst stammt sie aus China. „Vom unscharfen Sehen in der Ferne sind besonders die asiatischen Länder betroffen“, berichtet Karl Ulrich Bartz-Schmidt, Direktor der Universitäts-Augenklinik Tübingen und Präsident des 113. Kongresses der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG), der vom 1. bis zum 4. Oktober in Berlin stattfindet. Die WHO hat die Kurzsichtigkeit inzwischen zum globalen Gesundheitsproblem erklärt.

Eine Epidemie der Kurzsichtigkeit

Mingguang He von der Universität in Guanzhou und seine Mitarbeiter hatten für ihre Untersuchung zwölf Grundschulen nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugeteilt: In sechs der Schulen verbrachten die Kinder eine Schulstunde täglich im Freien , in den anderen sechs änderte sich nichts. Gestartet wurde das Projekt mit der Einschulung. Am Ende der dritten Klasse waren „nur“ 30,4 Prozent der Kinder, die täglich 40 Minuten zusätzlich draußen verbracht hatten, kurzsichtig. Bei den anderen waren es 39,5 Prozent.

Wer kurzsichtig ist, sieht Entferntes unscharf. „Schuld“ ist ein zu lang gewachsener Augapfel, durch den die Entfernung von Hornhaut und Linse zur Netzhaut größer ist als bei Normalsichtigen. Dass ausgiebiges Draußenspielen ein zu großes Längenwachstum des Augapfels verhindern kann, ist mit der neuen Studie noch nicht bewiesen. Derzeit sei unsicher, ob es die Kurzsichtigkeit nur aufschiebe, gibt Michael Repka von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore in einem Kommentar zur Studie zu bedenken.

Es sei plausibel, dass vor allem Lichtentzug die Ursache für die „Kurzsichtigkeits-Epidemie“ sei, schrieb der Biologe Elie Dolgin im Wissenschaftsmagazin „Nature“ im März dieses Jahres. Helles Licht fördert nämlich die Freisetzung des Botenstoffs Dopamin in der Netzhaut und verhindert wohl so, dass der Augapfel zu sehr in die Länge wächst. Umgekehrt wiesen Forscher im Tierversuch nach, dass bei Küken, die einen Dopamin-Hemmstoff ins Auge gespritzt bekamen, das Licht seinen Schutzeffekt verlor: Ihre Augäpfel wurden länger.

Lesen ist nicht besser als auf ein Smartphone zu starren

Zwar zeigen Zwillingsstudien, dass die Neigung zur verschwommenen Fernsicht erblich ist. Andererseits haben schon in den 60er Jahren Untersuchungen an Inuit ergeben, dass Kurzsichtigkeit bei den Erwachsenen, die ihre traditionelle Lebensform beibehalten hatten, extrem selten war, bei deren Kindern und Enkeln, die die Gemeinschaft im Norden Alaskas verlassen hatten, dagegen drastisch anstieg.

Neben dem fehlenden Licht sei der Faktor Naharbeit ein unabhängiger Risikofaktor, sagt Lagrèze. Das gute alte Lesen sei in dieser Hinsicht allerdings nicht besser als iPads oder Mobiltelefone, betonen die Augenärzte. Ein Beleg dafür kam vor einigen Jahren aus Israel: Thora-Schüler, die sich den ganzen Tag über ihre Bücher beugen, brauchten viel häufiger eine Brille als Gleichaltrige aus anderen Schulen.

Dass die Kurzsichtigkeit mit dem Ausbildungsstand zunimmt, belegt eine Studie von Augenärzten um Norbert Pfeiffer vom Uniklinikum Mainz, die im letzten Jahr in der Fachzeitschrift „Ophthalmology“ erschien. In der Gutenberg-Gesundheitsstudie waren 4658 Teilnehmer im Alter zwischen 35 und 74 Jahren eingeschlossen. Je höher ihr Bildungsgrad und je größer die Anzahl der Jahre, die sie die Schulbank gedrückt hatten, desto häufiger waren sie kurzsichtig und desto stärker ihre Brillengläser. Genetische Faktoren spielten eine geringere Rolle.

Wer stark fehlsichtig ist, hat ein größeres Risiko für andere Augenleiden

Ist ein Kind bereits kurzsichtig, dann empfehlen Augenärzte heute Augentropfen mit einer geringen Konzentration von Atropin. Das aus der Tollkirsche gewonnene Mittel dient in stärkerer Konzentration zum Weitstellen der Pupille. Es kann bei regelmäßiger Anwendung aber auch dafür sorgen, dass die Brillengläser nicht im Verlauf der Jahre stärker und stärker werden müssen. Auch multifokale Kontaktlinsen können nützlich sein, weil sie das Wachstum des Augapfels günstig beeinflussen. Starke Kurzsichtigkeit zu verhindern, ist schon deshalb wichtig, weil eine Fehlsichtigkeit von mehr als minus sechs Dioptrien das Risiko für eine Netzhautablösung und andere Augenleiden stark erhöht.

Bei der Vorbeugung spielt nach derzeitigem Kenntnisstand das Licht die größte Rolle. Computer, Smartphone und iPad werden vor allem deshalb zu Gefahrenquellen, weil die jungen Nutzer ihre Freizeit mit ihnen meist drinnen verbringen. In Asien versuchen Gesundheitspolitiker deshalb nun an der Stellschraube Schulunterricht zu drehen. „Um die Lichtintensität zu erhöhen, werden in Singapur taghelle Klassenzimmer erprobt“, berichtet Lagrèze.

Für die Augen mag das eine gute Lösung sein. Doch bekanntlich tut es Kindern auch sonst gut, im Freien zu spielen. „Kein runter“ ist eine Strafe. „Jedes glückliche Geschöpf – die Pflanze selbst kehrt sich zum Licht“, wusste schon der Begründer der Augenheilkunde Albrecht von Graefe, an den vor dem Charité-Gelände in Mitte eine Bronzeplastik und in Kreuzberg eine Straße erinnert. Gut, dass es im kinderreichen Berliner Graefe-Kiez ein paar Spielplätze gibt.

Weitere Informationen zu Augenleiden, unter anderem zu Vorbeugung und Therapie von Kurzsichtigkeit, bietet die Ausgabe „Auge und Ohr“ des Magazins „Tagesspiegel GESUND“. Sie kostet 6,50 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop.

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