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Bei Schnupfen machen Kinder Bekanntschaft mit neuen Erregern.

© Imago

Kurzbiografie unseres Immunsystems: Das Systemrelevante

Das Immunsystem begleitet uns unser ganzes Leben und lernt dabei ständig hinzu. Es leistet Unvorstellbares – nicht nur, wenn gerade Pandemie herrscht.

Die Corona-Pandemie hat dem allgemeinen Interesse für Krankheitserreger enormen Auftrieb gegeben. Schon spotten manche, inzwischen lebten 80 Millionen Virologen im Land. Doch sollten wir nicht auch Immunologen werden? Die Antworten auf die Bedrohung durch das Virus liefert schließlich – wo Abstand und Hygiene nicht reichen – unsere körpereigene Abwehr, das Immunsystem. Ein System, von dem man sagen könnte, dass es ein Leben lang im Homeoffice arbeitet. Hier, im Körperinneren, entfaltet es die Eigenschaften, die allgemein an guten Mitarbeitern geschätzt werden, ist es doch zugleich unauffällig, anpassungsfähig, kommunikativ, sparsam und meist recht zuverlässig zum Wohl seines Auftraggebers tätig.

Doch beginnen wir von vorn, also bei der Geburt. Neben natürlichen Barrieren wie Haut und Schleimhaut hat ein neugeborener Erdenbürger als Antwort auf Krankheitserreger zunächst vor allem Abwehrzellen, Fresszellen und bestimmte verstärkende Enzyme aufzubieten, die allerdings noch nicht ganz ausgereift sind. Vor allem aber kann dieses angeborene Immunsystem nicht passgenau arbeiten. „Es ist der evolutionär ältere Teil unserer Immunabwehr, den wir auch bei anderen Wirbeltieren, bei Fischen und Insekten finden“, erläutert Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. „Die dafür zuständigen Immunzellen sitzen unter allen Körperoberflächen und bilden zunächst ganz banal die erste Verteidigungslinie gegen die Erreger. Ihr Vorteil ist, dass sie nicht trainiert werden müssen und sofort Alarm schlagen.“

Nach dem Stillen muss das Abwehrsystem eines Kindes vor allem eines: lernen

Der Teil des Immunsystems, den wir im Lauf des Lebens dazu erwerben, ist dagegen beim Kontakt mit neuen Bakterien oder Viren langsamer. „Dafür ist das erworbene Immunsystem aber hochspezifisch und hat ein Gedächtnis“, erklärt der Immunologe. Gut also, dass ein Kind schon vor der Geburt und beim Stillen ein paar spezialisierte mütterliche Immunzellen und Antikörper mitbekommt. Anschließend muss sein Abwehrsystem vor allem eines: lernen.

Das tut es in erster Linie anhand von Infektionen mit Viren, die die oberen Atemwege befallen. Achtmal im Jahr Husten und Schnupfen, das ist der Durchschnitt bei Kleinkindern zwischen ein und vier Jahren. Aber auch durch Impfungen machen sie Bekanntschaft mit neuen Erregern. Der Kontakt bringt Untergruppen von weißen Blutkörperchen auf Hochtouren: Die B-Lymphozyten (von englisch „Bone“) werden im Knochenmark gebildet, die T-Lymphozyten wandern in den Thymus, eine kleine Drüse, die man als Schule der Immunzellen betrachten könnte. Erkennen T-Zellen mit ihrer Antenne, dem Rezeptor, ganz spezifisch Teile eines Krankheitserregers, bringt das die maßgeschneiderte Abwehr in Gang: sie vermehren sich, zerstören als Killerzellen infizierte Zellen oder werden als Helferzellen aktiv. Diese T-Helferzellen wiederum aktivieren B-Zellen, die die Bildung von Antikörpern anstoßen, die ins Blut abgegeben werden. Sie können sich an Viren anheften, um sie vom Eindringen in Körperzellen abzuhalten.

All das dauert beim ersten Kontakt verständlicherweise ein paar Tage – die der unfreiwillige „Wirt“ des Virus unter Umständen krank im Bett verbringt. Nach überstandenem Infekt oder Impfung kann er oder sie sich dafür über Antikörper im Blut freuen, die bei einer erneuten Infektion mit demselben Erreger so schnell reagieren, dass keine Krankheit daraus wird: Sie haben sich den Eindringling gemerkt. Wie lange die passgenauen Antikörper sich nach einer Infektion mit Sars-CoV 2 im Blut halten, ist noch unklar, weil das Virus erst ein gutes Jahr kursiert. Allerdings wissen wir, dass die T- und B-Lymphozyten sich nach einer Infektion zu Gedächtniszellen entwickeln, die im Fall eines Falles rasch reagieren und eine erneute Immunantwort anstoßen, bei der erneut Antikörper gebildet werden. „Wenn ich die Armee einmal aufgebaut habe, geht es schnell, weil die Gedächtniszellen zurück bleiben“, versichert Watzl.

Wenn eine gewisse Grundimmunität erreicht ist, wird Sars-CoV-2 nur noch ein weiteres Atemwegsvirus sein

Weil Sars-CoV 2 ein neues Virus ist, das die Menschen weltweit unvorbereitet und immunologisch naiv getroffen hat, ist es derzeit noch so gefährlich. „Wir haben noch überhaupt keine Gedächtniszellen, die etwas Ähnliches gesehen hätten. Wenn wir es irgendwann einmal geschafft haben, dass ein Großteil der Bevölkerung eine gewisse Grundimmunität hat, dann wird Sars-CoV 2 einfach nur ein weiteres Atemwegsvirus sein“, ist Watzl überzeugt. „Selbst gegen Mutanten sind wir dann nicht komplett wehrlos.“

Das Immunsystem wehrt Feinde ab – prinzipiell „fremdenfeindlich“ ist es deshalb aber nicht. „Es sollte nicht zwischen fremd und eigen, sondern gefährlich und ungefährlich unterscheiden“, präzisiert Watzl. Pollen von Bäumen, die besonders jetzt im Frühling in der Luft liegen, sind für unseren Organismus zwar „fremd“, aber ungefährlich. Zu einer Allergie kommt es, wenn das Immunsystem sie fälschlich für gefährlich hält, nach dem ersten Kontakt Antikörper (in diesem Fall vom Typ IgE) bildet und damit beim nächsten Kontakt unnötigerweise eine Immunantwort mit lästigen Folgen in Gang setzt. Neben genetischen Voraussetzungen führt die Wissenschaft als Grund dafür inzwischen die „Hygienehypothese“ ins Feld: Zu keimfrei und sauber aufzuwachsen, erhöht wohl das Risiko für Allergien.

Zu Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose oder Rheumatoider Arthritis kann es kommen, wenn körpereigene Strukturen von der Abwehr zu Unrecht als fremd eingestuft und etwa mit Entzündungen bekämpft werden. „Wir wissen, dass dann in extremen Fällen ein völliges Reset des Immunsystems durch eine Chemotherapie mit Transplantation von Knochenmark helfen kann“, erläutert Watzl. Hier ergebe sich womöglich auch eine Verbindung zu den Sinusvenenthrombosen, die als extrem seltene Nebenwirkung nach Impfungen gegen Sars-CoV-2 mit Astrazeneca auffielen. Wie eine Arbeitsgruppe der Universität Greifswald um Andres Greinacher herausgefunden hat, sind hier Auto-Antikörper gegen ein wichtiges Eiweiß der für die Blutgerinnung zuständigen Blutplättchen im Spiel.

Das Immunsystem kann Krebs übersehen - oder ihn therapieren

Dass dem Immunsystem etwas Gefährliches, aber Körpereigenes entgeht, kann wiederum zu Krebs führen, umgekehrt können Immuntherapien in einigen Fällen bei Krebsbehandlung wirken. Eine besondere Art der Immunschwäche löst das HI-Virus aus, das unbehandelt zu AIDS, dem „Acquired Immune Deficiency Syndrome“, führen kann. In ganz seltenen Fällen kommen Kinder mit einer angeborenen Immunschwäche auf die Welt. Eine schwere Bürde fürs ganze Leben.

Weit häufiger schwächelt die Immunabwehr im höheren Lebensalter. Das Altern des Immunsystems habe zum einen damit zu tun, dass das erworbene Immunsystem im Lauf eines langen Lebens schon so viel geleistet hat, erklärt Immunologe Watzl. „Bei jeder Infektion bauen wir eine Armee an Gedächtniszellen auf, im Alter haben wir dann ganz viele Zellen, die sich schon an etwas erinnern und kaum mehr welche, die noch naiv sind. Die jungen Immunzellen, deren Rezeptoren auf den neuen Erreger passen, funktionieren deshalb im Alter etwas schlechter.“ Ein Grund, dass neuartige Erreger für ältere Menschen besonders gefährlich sind. Auch dass das Immunsystem als großes Organ des Körpers viel Energie braucht, kann zu seiner „Altersschwäche“ führen. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht große individuelle Unterschiede, wie sich in Studien an den Immunreaktionen von Altenheim-Bewohnern auf die Corona-Impfungen zeigte.

Kann man selbst etwas dazu beitragen, das Immunsystem möglichst lange „jung“ zu erhalten? „Vitaminpillen nützen im Normalfall nichts“, erklärt Watzl. „Wir wissen aber, dass ausgewogene Ernährung, ausreichend Schlaf und Bewegung hilfreich sind.“

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