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Herausstehend. Auch Religionen erwiesen sich immer wieder als Treibmittel der Individualisierung.

© Imago

Kritik am Eurozentrismus: „Das Individuum ist keine Erfindung der westlichen Moderne“

Phasen starker Individualisierung gab es in vielen Regionen und Epochen. Oft wurden sie mit dem Bedürfnis nach kultureller Angleichung gekontert.

Die These, dass sich zeitgenössische Gesellschaften durch ein extremes Maß an Individualisierung auszeichnen, ist längst zum soziologischen Gemeingut geworden. Ob Alain Ehrenbergs Diagnose des sich im Hamsterrad der Selbstverwirklichung kaputtlaufenden Subjekts, Ulrich Becks Analyse biografischer Zergliederung oder Andreas Reckwitz' Befund vom bunten Patchwork kultureller Praktiken und Lebensstile: Bestandsaufnahmen der Spätmoderne zeichnen uns als „Hyperindividuen".

Klassische Modernisierungstheorien von Georg Simmel, Émile Durkheim oder Max Weber haben – bei aller Verschiedenheit – stets einen notwendigen Zusammenhang von Modernisierung und Individualisierung betont. Diese wurde als linearer oder gar zielgerichteter Prozess und als Alleinstellungsmerkmal der westlichen Zivilisation gedeutet.

Die gängige Annahme: Erst als die Gesellschaften des Okzidents ihr traditionelles Gepräge abgelegt und sich sozial, kulturell und ökonomisch ausgefächert haben – mit Aufklärung, Säkularisierung, erweiterter Arbeitsteilung und industrieller Revolution also –, hat das Individuum im heutigen Sinn die Weltbühne betreten. Wir Hyperindividuen der Spätmoderne, die sich ihre maßgeschneiderte Identität auf einem Markt der Weltbilder und Lebensformen freihändig zusammenkonsumieren, wären dann dessen vollendete Form.

Wider die Modernisierungsthese

Ein über zehn Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt des Max-Weber-Kollegs der Uni-Erfurt mit etwa hundert beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt hat religiöse Individualisierungsprozesse in zahlreichen Epochen und auf verschiedenen Kontinenten vergleichend untersucht und tritt der Modernisierungsthese jetzt systematisch entgegen.

Der einschlägige Befund der Forscherinnen und Forscher: Individualisierung – etwa im Sinne gesteigerter Selbstreflexion, einer Pluralisierung von Lebensstilen oder der moralischen und juridischen Zuschreibung personeller Verantwortlichkeiten – ist keine Erfindung der westlichen Moderne. Gleichzeitig, so der Tenor des Forschungsprojekts, erweisen sich insbesondere Religionen nicht bloß als Hemmnis des Individuellen, sondern oft als dessen Treibmittel. „Wir wenden uns gegen die landläufige Erzählung vom primär kollektiven Charakter des Religiösen“, sagt der Erfurter Religionswissenschaftler und Sprecher der Forschungsgruppe, Jörg Rüpke.

Goldfisch schwimmt gegen den Storm.
In vielen Epochen gab es zeitlich begrenzte Individualisierungsprozesse.

© Bernd Ege

Was man unter dem Begriff der Individualisierung fasse, sei auch in vormodernen Kulturen anzutreffen – nicht zuletzt auch in der Geschichte von Völkern wie China, die sich heute als eine zu allen Zeiten kollektivistische Kultur imaginieren.

Ideenmigration gab es immer wieder

„Tatsächlich hat es in vielen Epochen und Weltgegenden zeitlich begrenzte Individualisierungsprozesse gegeben, auf die dann oftmals Phasen einer Rekollektivierung gefolgt sind“, sagt Rüpke. So gab es etwa in der mittelmeerischen Antike eine Vielzahl religiöser Optionen und synkretistischer Patchworks sowie einen breiten Freiraum für die Schaffung individueller Gottheiten und Lebensmodelle.

Reisende, die ihre Ideen und Vorstellungen in andere Kulturen mitbrachten und von diesen dabei ihrerseits geprägt wurden, trugen zur Verflechtung von Lebensformen bei. „Ideenmigration und kulturelle Transfers finden keineswegs erst in der Moderne und außerdem auch jenseits von Europa, zum Beispiel in Indien, statt“, sagt der ebenfalls als Leiter am Projekt beteiligte Historiker Martin Mulsow. Vor allem in städtischen Zentren, wo viele Menschen aus zahlreichen Welten zusammenkamen, habe es oftmals hoch-individualisierte Selbst- und Weltverhältnisse gegeben. Das Container-Narrativ vom geschlossenen Kulturraum ist historisch schon lange widerlegt.

Einheits- und Reinheitsfantasien

Nicht selten in der Geschichte aber wurde ein hohes Maß an Pluralisierung alsbald mit einem gesteigerten Bedürfnis nach interner Angleichung gekontert – ein Phänomen, das sich auch in den heutigen Einheits- und Reinheitsfantasien nationalistischer Gruppierungen zeigt.

Die allmähliche theologische Konsolidierung des Christentums, die Etablierung kirchlicher Standards im Ausgang der Spätantike etwa, kann man laut Rüpke ebenfalls als einen derartigen Umschlag begreifen. Aber auch innerhalb des Christentums gab es, früher als zuweilen unterstellt werde, vielfältige Individualisierungstendenzen – zum Beispiel in der Mystik des Hochmittelalters, in der das unmittelbare Gottesverhältnis des Einzelnen zum wesentlichen Gradmesser des Glaubens wurde.

Eine moderne Gesellschaft ist nicht automatisch freier

Zwar hätten sich jene Phänomene, die unter den Begriff der Individualisierung fallen, im Lauf der Geschichte durch eine zunehmende Verstädterung und die Ausbildung breiterer Mittelschichten flächendeckender verankert, meint Rüpke. Trotzdem fänden sich verschiedene Aspekte von Individualisierung – wie Selbstbefragung und Optionenvielfalt – auch in Kombination mit vormodernen Kulturphänomenen.

[Jörg Rüpke, Martin Mulsow, Antje Linkenbach u.a. (Hg.): Religious Individualisation. Historical Dimensions and Comparative Perspectives, De Gruyter 2019, 1444 Seiten, 118,80 €.]

Gleichzeitig seien viele Bestandteile der Individualisierung in einigen Phasen der Moderne mehr oder weniger gar nicht vorhanden. „Der Nationalsozialismus war das Gegenteil einer individualisierten Gesellschaft. Und doch wäre es falsch, zu behaupten, die Moderne habe 1933 geendet.“ Eine modernere Gesellschaft ist eben nicht automatisch auch eine buntere und freiere Gesellschaft.

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