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Vielstimmig. Die Ausstellungwand des Scripts-Clusters im Humboldt Labor zeigt wie sich die liberale Ordnung immer wieder verändert hat.

© Humboldt-Universität zu Berlin/ Foto: Philipp Blum

Krisenforschung im Humboldt Forum: Wie die Demokratie aufs Korn genommen wird

Eine Wissenschaftsschau im Humboldt Labor zeigt die Geschichte der liberalen Demokratie. Und wie ihre Feinde, so auch Wladimir Putin, sie immer wieder angreifen.

„Der Putin fehlt in der Aufzählung“, sagt Michael Zürn, Co-Direktor des Berliner Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script - Scripts“, der zu den globalen Herausforderungen liberal-demokratischer Ordnungen forscht. Der Cluster ist mit einer Forschungswand an der von der Humboldt-Universität kuratierten Wissenschaftsschau "Nach der Natur" im Humboldt Forum beteiligt.

So nennt Zürn im Trailer zu der inhaltlich und technisch hoch ambitionierten Forschungs-Ausstellung vier Phänomene, die das „liberale Skript“ aktuell heftig attackierten. Den im Innern des Liberalismus selbst gedeihenden autoritären Populismus, die wachsenden Erfolge des chinesischen Modells, den Islamismus sowie antipluralistische, technokratische Sehnsüchte.

Wohl spätestens seit dem 24. Februar 2022 hätte dem Russland Wladimir Putins in der Reihung eine eigene Erwähnung gebührt. In der eigentlichen Ausstellung im Humboldt Labor sind Russland und Putin aber ausdrücklich Thema. Denn so viel, meint Michael Zürn, sei schon lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine klar gewesen: Dass Putin die personifizierte Vollendung des autoritären Populismus sei. „Er ist die extremste Form einer politischen Bewegung, deren Anhänger mit dem Mandat des Wahlsiegers ausgestattet die Demokratie nach und nach aus den Angeln heben“, sagt der Politikwissenschaftler.

Das liberale Skript hat viele Gesichter

Zürn steht inmitten des Humboldt Labors, referiert, diskutiert und beantwortet Fragen. „Meet the Scientist“ heißt das Konzept, das die Wissenschaftsschau periodisch flankiert. Die eben noch den Raum dominierenden Objekte, meist aus der historischen Sammlung der HU, wurden von Kränen in die Höhe gezogen. 

Im Hintergrund gleiten Rollos aus der Decke, auf denen die Geschichte des liberalen Skripts, wie es aus dem „Westen“ in die Welt diffundierte, seine Selbstwidersprüche und Anfechtungen multimedial präsentiert werden. Auf einer über 25 Meter langen und sechs Meter breiten Wand, erklären mehrere Wissenschaflter:innen parallel die Entstehung des liberalen Denkens und wie dieses in verschiedenen Regionen jeweils besondere Formen kultivierte. 

Dazu werden historische Zeitungsauschnitte und aktuelle Twitter-Kommentare präsentiert – die Besucher:innen können einen Tweet hinterlassen, der dann in die Wand integriert wird.

Demokratien in Bewegung

„Das liberale Skript hat sich durch die Zeit hindurch immer wieder transformiert“, sagt Cordula Hamschmidt, die als Koordinatorin im Knowledge Exchange Lab des Clusters den Ausstellungsbeitrag von Scripts mitgestaltet hat. Dabei seien die zentralen Versprechen Freiheit, Gleichheit, Rechtssicherheit, Wohlstand, Fortschritt und Kontrolle der Natur keineswegs das alleinige Produkt alter weißer US-amerikanischer oder europäischer Männer, sagt die Berliner Historikerin Jessica Gienow-Hecht. 

Putin sei die personifizierte Vollendung des autoritären Populismus, sagt Michael Zürn.
Putin sei die personifizierte Vollendung des autoritären Populismus, sagt Michael Zürn.

© via REUTERS

Ideen und Konzepte migrierten immer wieder und kehrten dann verändert zurück. So seien zum Beispiel die Menschenrechte auch durch Südamerika geprägt worden – wie auch die FU-Politikwissenschafterin Marianne Braig unterstreicht. Demnach bricht die Ausstellungswand auch mit den eurozentrischen Irrtümern des liberalen Scripts über sich selbst. Und zeigt im „Zentrum“ unbekanntere Freiheitskämpfe an der „Peripherie“, wie den Aufstand der Sklaven von Haiti im ausgehenden 18. Jahrhundert, der den ersten unabhängigen Staat Lateinamerikas nach sich zog. In das liberale Skript, so wie wir es heute kennen, haben sich Gesellschaften rund um den Globus eigenmächtig hineingeschrieben.

Umso falscher ist die kulturessenzialistische These von Alexander Dugin und anderen ideologischen Stichwortgebern Putins, der Liberalismus sei ein „westliches Konzept“ und den Menschen im „Osten“ nicht angestammt. Mit solchen Kultur-Container-Ideen räumt die Ausstellung auf. 

Freiheit der Wenigen

Was die Schau ebenfalls offenbart, sind die Sollbruchstellen und historischen Irrwege des liberalen Ordnungsmodells. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - in der Kolonialzeit mussten Afrikanerinnen und Afrikaner feststellen, dass diese Versprechen für sie nicht gelten sollten“, erläutert etwa Andreas Eckert, Afrikawissenschaftler an der HU. So war das liberale Skript stets exklusiv und konterkarierte seine eigenen Ideen. Dass der historisch mit den Phänomenen Kapitalismus und Kolonialrassismus verzahnte Liberalismus aus mehreren Gründen die Gefahr birgt, letztlich eine Freiheit der Wenigen auf Kosten einer Freiheit der Vielen auszuformen, wird auf den Rollos somit auch thematisiert.

Aber, sagt Michael Zürn: „Die Tendenz zur Ausweitung des Prinzips der politischen Gleichheit ist dem liberalen Skript selbst eingeschrieben“. Mit dem Ideenkoffer des Liberalismus haben diverse Minderheiten gegen die real-liberalen Gesellschaften, in denen sie lebten, nach und nach ihre Freiheiten erstritten, ein Prozess der immer noch andauert.

Das liberale Skript wird nicht nur von außen, sondern auch von innen attackiert.
Das liberale Skript wird nicht nur von außen, sondern auch von innen attackiert.

© picture alliance / dpa

Zwar habe die liberale Demokratie auch immer wieder große Enttäuschungen produziert, sagt Michael Zürn im Verlauf des Meet-the-Scientist-Gesprächs. So erlebten wir etwa seit 2001, dass die liberal-demokratische Welt nicht mehr expandiere, sondern schrumpfe.

Demokratie muss verteidigt werden

Allein, der große Vorteil des liberalen Skripts gegenüber anderen Ordnungsmodellen – so sind sich die Forschenden des Scripts-Clusters einig – sind seine Fähigkeit zur Selbstkorrektur und seine Flexibilität. „Zu den Stärken des Liberalismus gehört es, seine eigenen Alternativen mit zu produzieren. Deswegen ist es nicht einfach zu sagen, was eine Krise, eine Anfechtung oder einfach nur der nächste Formwandel des Liberalen Skripts ist“, verlautbart der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers auf einem der zahlreichen Rollos.

Das liberale Skript ist ein unübersichtliches und vielstimmiges Gebilde – genau wie die Ausstellung im Humboldt-Labor, die diese Lebensform thematisiert. Dass die Wissenschaftsschau die Besucher:innen zwar nicht ratlos, aber überfordert zurücklässt, kann man als ästhetische Absicht verbuchen. Da sich sowohl das liberale Skript, als auch seine Anfechtungen weiterentwickeln, soll die Ausstellung der Weltlage angepasst werden. Wahlweise durch zusätzliche Videos und Bilder, oder durch Vorträge und Publikumsgespräche.

Dass ein autoritärer Populismus von Bolsonaro über Orban und Modi bis Putin weltweit zunehmend an Boden gewinne, heiße aber nicht, dass die Demokratie ein Auslaufmodell sei, sagt Zürn. Dass sie nichts Selbstverständliches ist und gegen ihre Feinde verteidigt werden muss, ist heute aber klarer denn je.

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