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Schwieriger Beginn. Für das Überleben von Frühgeborenen ist es entscheidend, wann sie zur Welt kommen. Jeder Tag im Mutterleib erhöht ihre Chancen.

© picture alliance / dpa

Krankenhauskeime: Gefährlicher Frühstart ins Leben

Selbst sehr ungenügend entwickelte Neugeborene können heute überleben. Dafür müssen sie künstlich ernährt und nicht selten auch beatmet werden. Damit steigt unvermeidlich das Risiko von Infektionen.

Der Wochenbericht des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales vom 26. Oktober verzeichnet für 2012 bislang 27 Ausbrüche in Krankenhäusern und Heimen durch meldepflichtige Erreger oder Krankheiten. 26 der 27 Ausbrüche haben kein öffentliches Aufsehen erregt. Mit Nr. 27 verhält es sich dagegen ganz anders. Anlass ist die Infektion von sieben Kindern und die Keimbesiedelung bei 14 weiteren Kindern auf zwei Neu- und Frühgeborenenstationen im Virchow-Klinikum der Charité mit dem Erreger Serratia marcescens.

Der Keim ist meist gut mit Antibiotika zu behandeln und der Ausbruch unter Kontrolle zu halten. In diesem Fall aber wurden schwere Vorwürfe gegen die Charite laut: „Skandal“ und „Schlamperei“ lauten sie, außerdem ist die Rede von einem Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz und von mangelhafter Kommunikation. Eine Mordkommission ermittelt wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung, weil ein nach einer Operation Anfang Oktober im Deutschen Herzzentrum Berlin verstorbenes Neugeborenes mit dem Serratia-Keim infiziert war. Ulrich Frei, Ärztlicher Direktor der Charité, verteidigt dagegen seine Mitarbeiter. „Das muss man als Krankenschwester erstmal verarbeiten, wenn man konzentriert arbeitet, um Menschenleben zu retten, und dann kriminalisiert wird“, sagt Frei.

Auf den betroffenen Intensivstationen des Virchow-Klinikums sind Todesfälle etwas, mit dem Mitarbeiter immer wieder konfrontiert sind. Hier werden schwerkranke und ungenügend entwickelte (unreife) Kinder behandelt. Beatmet, künstlich ernährt, mit Infusionen und Medikamenten versorgt. Ohne die moderne Intensivmedizin hätten viele keine Chance. Als Grenze zur Lebensfähigkeit wird eine Schwangerschaftsdauer von 22 bis 23 Wochen angesehen – normal wären 40. Kinder in der 23. Woche wiegen manchmal nur 500 Gramm, mitunter noch weniger.

Die Eltern wollen, dass alles getan wird

Wer mit 22 Wochen zur Welt kommt, hat selten eine Chance: Nur jedes zehnte Kind überlebt. Bei einer Frühgeburt mit 24 Wochen ist es dann schon jedes zweite. Vor allem bei sehr schwachen und unreifen Frühgeborenen stellt sich die Frage, ob man mit einer intensivmedizinischen Betreuung beginnt oder der Natur weitgehend ihren Lauf lässt, also nur lindernde Maßnahmen ergreift. „Es ist eine Entscheidung, die alle gemeinsam fällen und bei der natürlich auch die Eltern einbezogen werden“, sagt Christof Dame, stellvertretender Leiter der Neugeborenen-Medizin an der Charité. „Die meisten Eltern möchten, dass wir alles für ihr Kind tun.“

Sehr unreife Frühgeborene haben oft Atemprobleme, ihr Gehirn ist noch längst nicht entwickelt, das Immunsystem noch sehr unreif. Die künstliche Ernährung über einen haarfeinen Schlauch in der Vene ist lebensnotwendig, unter Umständen auch ein Beatmungsschlauch in der Luftröhre – eingreifende Maßnahmen mit dem hohen Risiko für eine gefährliche Infektion. Wer die Kinder durchbringen will, muss es eingehen.

„Es ist eine fantastische Leistung der modernen Medizin, dass so viele extrem unreife Frühgeborene ohne Infektion überleben und nicht automatisch ein Hygienefehler, wenn einige an Infektionen sterben“, hat der Freiburger Krankenhaushygieniker Franz Daschner, führender Vertreter seiner Zunft, im Juni in einem Beitrag für das „Deutsche Ärzteblatt“ festgestellt. „Nur 30 Prozent aller Krankenhausinfektionen sind vermeidbar, 70 Prozent der Tribut an eine moderne, lebensrettende Medizin.“

Vom Embryo zum Baby - Entwicklung und Überlebenschancen eines Kindes
Vom Embryo zum Baby - Entwicklung und Überlebenschancen eines Kindes

© Charité/Tagesspiegel

Daschner geht noch weiter. „Eine Klinik mit überdurchschnittlich hoher Krankenhausinfektionsrate bedeutet nicht automatisch, dass es dort mit der Hygiene im Argen liegt, sondern eine solche Klinik betreut in der Regel und nach meiner langjährigen Erfahrung die besonders kranken und infektionsanfälligen Patienten“, schreibt er.

Die Umgebung für die Neugeborenen auf der Intensivstation mag keimarm sein, keimfrei ist sie nicht. Es gibt Bedürfnisse, die gegen ein Infektionsrisiko aufgewogen werden müssen. Etwa menschliche Nähe. „Die Eltern sollen Kontakt zu ihrem Kind aufbauen“, sagt der Kinderarzt Dame. „Kängoruhing“ heißt die Methode, bei der das Kind der Mutter (und dem Vater) auf die Brust gelegt wird, möglichst mehrere Stunden am Tag. Der Name leitet sich von den Kängurus ab, deren unreife Nachkommen zunächst am Körper der Mutter in einem Beutel gewärmt und gesäugt werden.

Der enge Kontakt von Haut zu Haut beim „Kängoruhing“ tut den Babys und ihrer Entwicklung gut, sogar von weniger Krankenhausinfektionen ist die Rede. Und es kann das Stillen fördern. Das ist wichtig, denn die Frühgeborenen sollen schnell Muttermilch bekommen.

Vermutlich werden nirgendwo im Krankenhaus Patienten so intensiv betreut wie auf einer Neugeborenen-Intensivstation, und vermutlich wird nirgendwo so hartnäckig um das Überleben gekämpft. An der Charité werden moderne Therapien angewandt, um die Chancen der Kinder zu steigern. Dazu gehört die Behandlung mit „probiotischen“ Bakterien, um die Darmflora zu normalisieren und das Risiko für Darmentzündungen zu verringern. Manchmal bekommen die meist unter Blutarmut leidenden Frühgeborenen das Hormon Erythropoetin gespritzt, das als Dopingmittel „Epo“ bekannt ist. Es regt die Blutbildung an und erspart dem Kind eine Transfusion.

„Der Serratia-Ausbruch wird uns noch wochenlang beschäftigen“, ist der Ärztliche Direktor Frei sicher. Man habe „in jeder Ecke gesucht“, mehr als 400 Proben genommen, bis auf eine Serratia-Spur an einem Beatmungsgerät jedoch nichts gefunden. Zugleich gibt es Zuspruch. Familien, deren Kinder früher auf den Stationen betreut wurden, schicken ermutigende E-Mails. „Das sind bewegende Beispiele der Solidarität“, sagt Dame.

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