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Die Zeiten, da jeder einen Hausarzt hatte und dieser auch rund um die Uhr erreichbar war, sind vorbei. Aber wohin, wenn es wehtut? Wo das nächste Krankenhaus ist, weiß jeder. Und viele fahren hin, doch nicht selten ginge es auch anders. Foto: dpa/Jens Wolf

© dpa/Jens Wolf

Krankenhäuser: Im Zweifelsfall ein Notfall

Notaufnahmen werden immer voller. Nicht jeder Patient ist dort richtig. Das schafft Probleme, rettet aber auch Leben.

Der 68-jährige Herr hat seit drei Wochen immer wieder ein leicht schmerzhaftes Ziehen im Oberbauch, das er zuvor nicht kannte. Er hat bisher abgewartet, obwohl er sich Sorgen macht, dass da etwas nicht stimmen könnte. Kurz bevor die Beschwerden einsetzten, war er gestolpert und unsanft auf die linke Seite gefallen. An einem Freitagnachmittag kommt er schließlich zusammen mit seiner Frau in die Notaufnahme. Dort ist es rappelvoll.

Ist der Rentner dort überhaupt richtig? Wenn Rajan Somasundaram, Leiter der Zentralen Notaufnahme der Charité auf dem Campus Benjamin Franklin, seinen Studierenden diesen realitätsnahen Fall vorstellt, antworten viele von ihnen zunächst mit „Nein“. Andere zögern: Es könnte schließlich etwas Ernstes, Lebensbedrohliches dahinterstecken. Das zu übersehen, würde sich keiner von ihnen verzeihen.

„Bei uns wird kein Patient weggeschickt, den sich nicht eine Ärztin oder ein Arzt angeschaut hat“, erklärt der erfahrene Notfallmediziner den angehenden Ärzten. Kaum einem könne man ganz sicher ansehen, dass seine Beschwerden harmlos sind. „Im Nachhinein sind wir immer schlauer, doch die Patienten kommen mit Symptomen zu uns, nicht mit einer fertigen Diagnose.“

Ob die Symptome als Notfall eingeschätzt werden, haben deshalb zunächst einmal der Betroffene oder sein soziales Umfeld selbst zu entscheiden. Das ist in einer gemeinsamen Stellungnahme der einschlägigen deutschsprachigen Fachgesellschaften aus dem Jahr 2013 ausdrücklich festgehalten. Ein Notfall sind demnach körperliche oder psychische Veränderungen, für welche der Patient selbst oder etwa ein Angehöriger „unverzüglich medizinische und pflegerische Betreuung als notwendig erachtet“.

Aus einer Befragung von über 1500 Patienten, die ohne Rettungswagen in Notaufnahmen des Benjamin-Franklin- und des Helios-Klinikums (in Buch) kamen, geht hervor, dass neun von zehn sich selbst als Notfall einstuften. Entscheidend dabei waren vor allem die empfundenen Schmerzen. Das zeigten die Ergebnisse einer von Medizinern zusammen mit Gesundheitswissenschaftlern der TU Berlin 2016 in der Zeitschrift „Gesundheitswesen“ veröffentlichten Studie.

„Machen Sie nie den Patienten dafür verantwortlich, dass er sich als Notfall eingeschätzt hat und aus nachträglicher Sicht keiner war“, appelliert Somasundaram an seine Studenten. Er wünscht sich von Bürgern umgekehrt aber auch, dass sie Verständnis für Wartezeiten in der Notaufnahme aufbringen und bei ihrer Kritik konstruktiv bleiben. Der Unfallchirurg Axel Ekkernkamp, Professor an der Uni Greifswald und Direktor des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB), sieht das ähnlich. „Man sollte keinen Patienten dafür kritisieren, dass er in eine Notaufnahme kommt. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu nehmen, wie er ist – und ihm zu helfen.“ Eine „Willkommenskultur“ nennt Ekkernkamp das. Für das UKB, in dem auch Schwerverletzte umfassend versorgt werden können, ist der Notfall ohnehin fast der Normalfall. „66 Prozent der Patienten auf unseren Stationen kommen über unsere Rettungsstelle“, sagt Ekkernkamp.

Allerdings steigen die Zahlen der Patienten, die direkt in die Notaufnahmen fahren, massiv. Derzeit sind es 20 Millionen pro Jahr. Und bei Weitem nicht alle Hilfesuchenden sind in der Rettungsstelle richtig. Auch daran, ob sie überhaupt das Kriterium erfüllen, dass sie oder ihre Begleiter sie als echten Notfall einstufen, gibt es berechtigte Zweifel. Die Beobachtungsstudie PiNo-Nord („Patienten in der Notaufnahme von norddeutschen Kliniken“) etwa hat ergeben, dass 54 Prozent der Patienten, die in drei Hamburger Krankenhäusern und zwei Kliniken aus Schleswig-Holstein befragt werden konnten, sich selbst nicht als Notfall empfanden. Details dieser Daten, die 2017 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurden, sind bezeichnend: Besonders häufig hatten Patienten, die nachts oder am Wochenende in die Notaufnahme kamen, zu Protokoll gegeben, dass ihr Fall eigentlich nicht besonders eilig sei. Fälle mit „niedriger subjektiver Dringlichkeit“ landeten also vor allem zu den Zeiten in der Notaufnahme eines Krankenhauses, in denen ein niedergelassener Haus- oder Facharzt nicht verfügbar war.

Notfallversorgung rund um die Uhr ist in den Augen von Somasundaram „einer der wesentlichen Bausteine der Daseinsfürsorge“. Allerdings sind die Krankenhäuser nicht allein dafür zuständig. Der Ärztliche Bereitschaftsdienst und die Telefondienste, die die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) als Beitrag der niedergelassenen Ärzte organisieren, sind jedoch weit weniger bekannt als die Nummer 112 und die Anlaufstellen der Krankenhäuser. Mehr als der Hälfte der Patienten aus der Charité und aus Buch, die für die Studie befragt wurden, war der Bereitschaftsdienst der Niedergelassenen kein Begriff. Die meisten gaben an, sie hätten durchaus eine solche Notfalleinrichtung außerhalb des Krankenhauses aufgesucht, wenn sie zur Verfügung gestanden hätte.

Vielerorts ist das inzwischen möglich: Solche „Portalpraxen“ in Krankenhausnähe sind bisher nur am Wochenende und nachts geöffnet. Ob sie rund um die Uhr Anlaufpunkte sein sollten (und damit anderen Praxen dann Konkurrenz machen könnten), war beim Deutschen Ärztetag in Erfurt im Mai ein Streitthema. Schließlich sprachen sich die Delegierten dafür aus, in Modellprojekten auch rund um die Uhr geöffnete Portalpraxen zu erproben.

Am UKB, das seit Mitte 2016 einen Vertrag mit einer Portalpraxis hat, habe man damit hervorragende Erfahrungen gemacht, berichtet Ekkernkamp: „Die niedergelassenen Kollegen bringen ihren Blick ein, das ist ein Gewinn.“ Auch Somasundaram spricht sich klar für die neue Struktur aus. „Wir profitieren von der Erfahrung der Niedergelassenen.“

Ein weiteres Streitthema, um das es derzeit etwas ruhiger geworden ist, bildet die Ausbildung der Mediziner, die in der Rettungsstelle arbeiten. Während derzeit die Patienten in der Rettungsstelle von Ärzten verschiedener klinischer Fachgebiete versorgt werden, plädieren Somasundaram und viele seiner Kollegen für eine eigene Weiterbildung und für einen gesonderten Facharzt für Notfallmedizin, wie er in vielen anderen Ländern üblich ist. Von der Ärztekammer Berlin wird inzwischen eine Zusatz-Weiterbildung  in Klinischer Notfall- und Akutmedizin für Ärzte angeboten, die schon in einem anderen Fachgebiet ihren Facharzt gemacht haben  - eine Qualifikation, um die lange gerungen wurde.

Ob sie sich überhaupt vorstellen könnten, Facharzt für Notfallmedizin zu werden, wurden Studierende der Charite in einer Untersuchung gefragt. Es meldeten sich ebenso viele Interessenten wie für das Fach Neurologie. „Die Jungen würden es gern machen“, folgert Somasundaram. Ekkernkamp allerdings ist skeptisch: „Ich bin mir nicht sicher, ob jemand ein Leben lang im Schichtdienst in der Rettungsstelle arbeiten will.“ Einen „Feldversuch“ mit der Qualifikation zum neuen Facharzt befürwortet aber auch er.

Tatsächlich lässt sich die Mehrheit der Patienten, die in Rettungsstellen Hilfe suchen, nicht auf Anhieb eindeutig einem herkömmlichen medizinischen Fachgebiet zuordnen. Und dass Notfallmedizin ganz real ein Spezialgebiet ist, legt eine Großuntersuchung nah, für die Somasundaram und seine Kollegen sich vor einiger Zeit die Daten aller (nicht wegen einer eindeutig erkennbaren Verletzung gekommenen) Notaufnahme-Patienten eines ganzen Jahres vornahmen: Zwei Drittel der insgesamt 34 333 Patienten, die sich zwischen Dezember 2008 und Dezember 2009 in einer der beiden beteiligten Charité-Notaufnahmen vorgestellt hatten, waren nicht mit typischen Symptomen für das Problem gekommen, das letztlich diagnostiziert wurde. Eine eindeutige Zuordnung zu einem der etablierten Fachgebiete war also oft unmöglich – oder wäre schlicht falsch und damit gefährlich gewesen. Und auch hinter vermeintlich typischen Zeichen verbarg sich nicht immer die vermutete Erkrankung.

Ein Klassiker unter den eher klaren Symptomen sind Brustschmerzen, über die in der Studie knapp zwölf Prozent der Patienten klagten. Wie Diagnostik und Anfangsbehandlung hier ablaufen müssen, ist klar. Auch die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für solche typischen Symptome hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. Die Sterblichkeit von Patienten, die mit Brustschmerzen ins Krankenhaus kamen, war mit einem Prozent relativ niedrig. Wahrscheinlich lag das einerseits daran, dass Ärzte in solchen Fällen sehr schnell das Richtige tun, und andererseits daran, dass mehr Menschen solche Symptome ernst nehmen und mit ihnen ins Krankenhaus gehen – selbst wenn sich herausstellt, dass es sich nicht um einen Infarkt handelte. Notfall-Patienten, die wegen schwerer Luftnot Hilfe suchten, waren dagegen im Durchschnitt deutlich älter, hatten oft eine schwere Lungenerkrankung oder Herzschwäche. Die Sterblichkeit bei ihnen lag bei neun Prozent.

Von den Patienten, die mit schweren Kopfschmerzen kamen, hatte erwartungsgemäß eine größere Gruppe einen Schlaganfall erlitten. Aber auch harmlosere Ursachen wie Blutdruckschwankungen oder Störungen im Flüssigkeitshaushalt kamen vor. Mit elf Prozent war die Gruppe der Patienten, die mit Bauchschmerzen in die Notaufnahme gekommen waren, recht groß. Oft waren bei ihnen aber nicht Magen- oder Bauchspeicheldrüsenprobleme die Ursache, sondern Herzinfarkte oder andere lebensbedrohliche Krankheiten. Jeder zwanzigste stationär aufgenommene Patient mit Bauchschmerzen und ohne typisches Herzkreislauf-Leitsymptom verstarb sogar kurz darauf.

Pauschale Kritik, Menschen kämen zunehmend wegen Lappalien in die Rettungsstellen, teilt Somasundaram angesichts solcher Daten nicht. „Die Patienten sind aufgeklärter, als viele Ärzte denken, und wir Ärzte müssen uns klarmachen, wie schnell wir selbst auf der anderen Seite liegen können.“

Ärztlicher Bereitschaftsdienst:

Telefon 116 117. Portalpraxen gibt es u.a. am UKB und am Jüdischen Krankenhaus.

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