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Die Kathedrale von Schuschi, 15 Kilometer entfernt von Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert, wurde am 13. Oktober bombardiert.

© AFP / ARIS MESSINIS

Konflikt um Berg-Karabach: Tradition russisch-türkischer Absprachen

Prekärer Status seit vielen Jahrhunderten: Ein Gastbeitrag zur Vorgeschichte und Gegenwart des Krieges in und um Berg-Karabach.

Wird die Geschichte Berg-Karabachs medial erzählt, beginnt sie meist 1988, drei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Damals beantragte der Oberste Sowjet des Autonomen Gebiets den Anschluss Berg-Karabachs an Sowjetarmenien, was Aserbaidschan prompt ablehnte. Als es sich seinerseits 1991 von der UdSSR trennte, folgte Karabach mit einer eigenen Unabhängigkeitserklärung.

Aserbaidschans Versuch der militärischen Rückeroberung scheiterte nach zweieinhalb Jahren am heftigen Widerstand der Karabacher Armenier. Bei dem von Russland und Kasachstan vermittelten Waffenstillstand erkannte das postsowjetische Aserbaidschan im Mai 1994 Karabach immerhin als gleichwertigen Verhandlungspartner an.

Dieser Abriss der jüngeren Geschichte – mit Nuancen je nach geopolitischem Standpunkt der Verfasser*innen – greift viel zu kurz, um zu einer informierten, historisch fundierten Einschätzung des seitdem fortdauernden Konflikts zu kommen. Beginnen muss die Erkundung spätestens im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Russland erkannte die osmanischen Gebietsansprüche an

Nach dem Zusammenbruch des armenischen Königtums bestand mit Ausnahme der östlichen Randgebiete Sjunik und Arzach (Karabach) im Armenischen Hochland keine souveräne Adelsherrschaft mehr. Ende des 17. Jahrhunderts, als der Iran von inneren und äußeren Krisen geschwächt war, schlossen sich fünf Arzacher Lokalherrscher (Meliken) zum Bündnis Machale Chamssa, dem „Vereinigten Land der Fünf“, zusammen. Dessen weitgehende innere Unabhängigkeit erkannte Iran seit 1603 offiziell an.

[Die Autorin ist Soziologin und war 1983 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Osteuropa-Institut der FU Berlin.]

Als Aufstände sowie eine afghanische Invasion ab 1719 die Macht der persischen Safawidendynastie erschütterten, nutzten die Osmanen die Schwäche ihres alten Rivalen zur Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre im Südkaukasus.

© Tagesspiegel/Rita Böttcher, Quelle: AFP, Nagorno Karabakh Observer

Zur Enttäuschung Ostgeorgiens und Armeniens sah aber Russland schon damals dem aufreibenden Kampf der südkaukasischen Christen nicht nur teilnahmslos zu, sondern schloss 1724 in Konstantinopel einen Vertrag, in dem Russland die osmanischen Ansprüche auf bisher iranische Besitzungen einschließlich der Gebiete Nachitschewan, Gandsak (Gandsche), Rapan und Arzach bekräftigte. Eine Tradition der russisch-türkischen Gebietsabsprachen entstand.

Die 1804 vollzogene Annexion Karabachs durch das Russische Reich musste der Iran neun Jahre später im Vertrag von Golestan anerkennen, der die Vormachtkämpfe im Südkaukasus beendete und die ehemals persischen Chanate Derbent, Baku, Gandscha (Jelisawetpol) und Karabach Russland unterstellte. Mit der Einnahme der Festung Eriwan und dem Vertrag von Turkmantschaj gingen 1828 auch die Chanate Eriwan und Nachitschewan in russischen Besitz über.

Sie wurden administrativ zu einem kurzlebigen „Armenischen Gebiet“ (1828-1840) zusammengeschlossen, das bei vielen Armeniern die Hoffnung auf eine staatlich-nationale Wiedergeburt nährte. Karabach verblieb jedoch im ethnisch und religiös besonders heterogenen Gouvernement Jelisawetpol.

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Die russische Armenienpolitik des 19. Jahrhunderts verlief zwiespältig. Armenier galten der russischen Geistlichkeit als Schismatiker und dem Geheimdienst als Revolutionäre. Den Ausdruck „Armenien ohne Armenier“ prägte der russische Botschafter und Außenminister Alexej Lobanow-Rostowskij.

Das seit 1882 zunehmend rigide Verhalten des russischen Verwaltungsapparats, die häufigen administrativen Neuaufteilungen des Südkaukasus ungeachtet seiner geographischen und ethnischen Zusammenhänge sowie eine oft auf plumper Gewalt beruhende Nationalitätenpolitik erschütterten das Vertrauen vieler Armenier zu ihren vermeintlichen Rettern.

Sowjetaserbaidschan als Autonomes Gebiet unterstellt

Die Krisen des Russischen Reiches 1904/5 sowie 1917 führten zu ersten „armenisch-tatarischen Kriegen“ mit wechselseitigen Massakern, vor allem an Armeniern (Baku 1918: 30 000 Opfer, Schuschi 1920: 20 000). Die Schwäche der kurzlebigen Republik Armenien (Mai 1918 bis November 1920) sowie die Gleichgültigkeit der Pariser Friedenskonferenz (1919), die den Status Karabachs offenließ, überantworteten dessen Schicksal für 70 Jahre (Sowjet-)Aserbaidschan.

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Obwohl sowjetaserbaidschanische und sowjetgeorgische Politiker, darunter Stalin, Armenien den Anschluss Karabachs seit Ende 1920 mehrfach in Aussicht gestellt hatten, wurde es auf türkisch-kemalistisches Drängen in Moskau am 5. Juli 1921 als „Autonomes Gebiet Berg-Karabach“ Sowjetaserbaidschan unterstellt.

Dieser Autonomiestatus betraf allerdings nur das zentrale Drittel (4400 Quadratkilometer) von 12 000 Quadratkilometern des historischen Berg-Karabach; die sieben angrenzenden Bezirke erlangten keinen Autonomiestatus.

Der armenische Bevölkerungsanteil, der 1923 noch bei 94 Prozent lag, sank infolge gezielter aserbaidschanischer Einschüchterung, Assimilierung, Vertreibung und sozioökonomischer Vernachlässigung auf 80,5 Prozent einer Gesamtbevölkerung von 162 000 (1979). Die seit 1962 wiederholten Bittschriften und Memoranden der Karabacher Armenier an die obersten Organe der KPdSU verhallten ungehört.

Verweis auf das nationale Selbstbestimmungsrecht

Welche Grundlage also hat die gängige Behauptung, Berg-Karabach gehöre völkerrechtlich zu Aserbaidschan? Sie wird ebenso von Aserbaidschan wie von nicht konfliktbeteiligten Staaten vertreten – häufig wider besseren Wissens.

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Dieser Auffassung überzeugend widersprochen hat etwa der Rechtswissenschaftler Otto Luchterhandt mit dem Argument, das nationale Selbstbestimmungsrecht der Karabacher Armenier sei höherwertig als das aserbaidschanische Souveränitätsrecht.

Obwohl international nicht anerkannt, verfüge Berg-Karabach „über sämtliche Kriterien eines De-facto-Staates“, kommentierte unlängst auch der ehemalige Sondergesandte der OSZE im Südkaukasus, Günter Bächler, bei einer von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde organisierten Videodebatte.

Aufgrund dieses Status sei die „Republik Arzach“ gegen Angriffe durch das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot geschützt und zur Selbstverteidigung befugt. Aserbaidschans wiederholte bewaffnete Angriffe seien ebenso völkerrechtswidrig wie die massive Unterstützung durch die Türkei.

Vor einer Prozession trauernder Angehöriger auf einem Friedhof sind bunte Grabgestecke zu sehen.
In Stepanakert besuchen Angehörige die Gräber der Opfer des Konflikts in der Region Berg-Karabach.

© Sergei Grits/AP/dpa

Doch wer setzt die Ahndung von Verletzungen des Völkerrechts im konkreten Fall durch? Genau dazu braucht es den Blick in die jahrhundertealte Geschichte regionaler Vormachtkämpfe und ungeklärter Statusfragen.

Ein Friedensschluss, den die Minsker Gruppe der OSZE seit 1994 vorzubereiten versucht, fehlt bis heute. Ihre „Madrider Grundsätze“ (2007 bis 2009), die eine Rückgabe der seit 1992 von armenischen Streitkräften kontrollierten sieben Bezirke sowie die Rückkehr Hunderttausender aserbaidschanischer Binnenflüchtlinge vorsehen, lehnte Armenien aus Sicherheitsgründen ab.

Stattdessen setzten armenische Staatspolitiker offenbar auf die Macht des Faktischen. Doch das erdölreiche Aserbaidschan hatte seine Territorialansprüche nicht vergessen und rüstete 2004 bis 2015 mit immer höheren Jahresausgaben auf, was das bedeutend ärmere Armenien in einen Rüstungswettlauf trieb. Aserbaidschan wird dabei nicht nur von der Türkei und Israel, sondern auch von Russland beliefert, das gleichzeitig Armenien mit Waffen versorgt.

Russlands Rolle im Südkaukasus bleibt zwiespältig: Denn die vermeintliche Schutzmacht der Armenier ist Handelspartner und geostrategischer Rivale der Türkei in einem. Die territoriale, bevölkerungsmäßige und militärische Asymmetrie zwischen Armenien und Aserbaidschan kennzeichnet auch das ungleiche Engagement ihrer Schutzmächte.

Während die Türkei ihr aserbaidschanisches „Brudervolk“ seit 1992 logistisch und mit Militärberatern unterstützt, hat Russland sechs Wochen zugewartet, wie sich die armenischen Streitkräfte im Kampf gegen Aserbaidschaner, Dschihadisten und syrische Söldner aufrieben.

Die aktuelle Stationierung russischer Truppen zur Friedenserhaltung und Stabilisierung beruhe auf keinem international vereinbarten Mandat, kritisierte Experte G. Bächler. Für die Menschen in Arzach/Karabach bedeuten der ungeklärte Status ihrer Heimat und die mit der russischen Friedensmission verbundenen Unwägbarkeiten eine anhaltende Unsicherheit von Leib und Leben.

Tessa Hofmann

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