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Katastrophale Arbeitsbedingungen. Die chinesische Regierung setzte eine Kommission ein, um die hohe Todesrate chinesischer Arbeiter auf dem spanischen Kuba aufzuklären. Der Stich aus dem Jahr 1872 zeigt Kulis, in welcher Umgebung ist nicht bekannt.

© imago stock and people/alimdi

Kolonialismus: Preußens China-Versteher

Der Diplomat Carl Arendt war nicht nur Pionier der Chinaforschung, sondern stellte auch die kolonialen Hierarchien infrage und engagierte sich gegen die Ausbeutung der Kulis.

Im Jahr 1873 plante die chinesische Regierung, eine Untersuchungskommission nach dem spanischen Kuba zu entsenden, um die elenden Arbeitsbedingungen und die hohe Todesrate der als Kulis dorthin verschifften Chinesen zu klären. Der spanische Gesandte in Peking versuchte, dies zu sabotieren. In den Auseinandersetzungen vermittelte Carl Arendt, der Dolmetscher der deutschen Gesandtschaft in Peking. Dank seines diplomatischen Geschicks konnte nach mühseligen Verhandlungen die Kommission entsandt und über die katastrophalen Zustände der wie Sklaven behandelten Kulis berichtet werden. Als sich dabei herausstellte, dass 80 Prozent der Kulis gekidnappt oder durch Tricks angeworben worden, mehr als zehn Prozent bereits während der Überfahrt gestorben, die Überlebenden verkauft und wie Sklaven ausgebeutet worden waren, wurde der bis dahin vertraglich geregelte Kuli-Handel beendet. Vier Jahre lang dolmetschte, verhandelte und vermittelte Arendt den Abschluss des neuen chinesisch-spanischen Vertrages, der eine freie Auswanderung chinesischer Arbeiter, ihre Gleichstellung mit anderen Fremden und die Einrichtung eines chinesischen Generalkonsulats auf Kuba vorsah. Ohne Arendt, ohne seine sprachliche und interkulturelle Kompetenz und seine Ablehnung der Ausbeutung chinesischer Arbeitsmigranten, wäre die politische Kehrtwende nicht möglich gewesen.

Carl Arndt, preußischer Gesandter in Peking und Pionier der Sinologie.
Carl Arndt, preußischer Gesandter in Peking und Pionier der Sinologie.

© Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, 1902.

Carl Arendt wird in der Historiografie des 19. Jahrhunderts nur am Rande erwähnt. Er zählt nicht zu den großen „historischen Persönlichkeiten“. Eine intensive Befassung mit seinem politischen und wissenschaftlichen Wirken macht allerdings deutlich, dass er eine Schlüsselfigur war, einmal in Bezug auf die deutsch-chinesischen Beziehungen und die koloniale Expansion in China, zum anderen in Bezug auf die Generierung von Wissen über China und die Professionalisierung von Sinologie und Chinawissenschaft. Beides ist in seiner Person, seinem Wirken und seinem Werk miteinander verflochten.

Mit dem Fokus auf Carl Arendt sind auch tradierte Vorstellungen und makrohistorische Narrative der Diplomatie- und Kolonialgeschichte sowie der Wissenschaftsgeschichte zu hinterfragen, geraten doch aus biografisch-mikrohistorischer Perspektive konkrete Gestaltungs- und Umsetzungsmechanismen der Politik und ihrer Akteure stärker in den Blick. Die Berücksichtigung sozialhistorischer Prägungen, familiärer und sozialer Lebensbedingungen in der Kolonial- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung, führt zu einem neuen Verständnis für soziales Handeln.

Er gestaltete die deutsche Chinapolitik mit

Zunächst zu Arendts Bedeutung für die deutsch-chinesischen Beziehungen und die deutsche Kolonialpolitik: Carl Arendt kam 1865 als Dolmetschereleve mit dem ersten preußischen Gesandten nach Peking. In den folgenden 22 Jahren gestaltete er als Konsul und dann als Erster Dolmetscher der Gesandtschaft wesentlich die deutsche Chinapolitik mit. Zahlreiche von ihm übersetzte und (mit)verfasste Memoranden, Protokolle und Depeschen der deutschen und chinesischen Seite, die bisher kaum von der Forschung berücksichtigt wurden, zeigen, dass die koloniale Phase Deutschlands in China schon mit dem Ungleichen Vertrag 1861 begann, nicht erst mit der territorialen Inbesitznahme der Kolonie Kiautschou 1897.

Von beiden Seiten wurde mit allen strategischen Mitteln um die Durchsetzung der Interessen gekämpft, auf der deutschen Seite auch mit dem lokalen Einsatz von Militär, in Kanton und Amoy, um Rechte deutscher Kaufleute zu „verteidigen“, die vertraglich nicht einmal existierten. Oder es wurden deutsche Kriegsschiffe in chinesische Häfen beordert, als Drohkulisse, um politische Forderungen durchzusetzen. Hinzu kam Alltagsgewalt gegenüber Chinesen, ausgeübt auch von Gesandtschaftsmitgliedern, allerdings nicht von Arendt.

Als Leiter des Konsulats im nahe gelegenen Vertragshafen Tianjin zwischen 1865 und 1873 hatte er auch Rechtsstreitigkeiten preußischer Bürger untereinander und mit Chinesen zu regeln. Dass er hier tatsächlich Recht zu sprechen suchte und die Alltagsgewalt einzelner preußischer Bürger gegen Chinesen im exterritorialen Raum nicht duldete, war die Ausnahme. Arendt stellte damit im Alltag, wenn auch nicht generell in den Beziehungen, die kolonialen Hierarchien infrage.

Die Kolonialbeziehung ging auf Kosten der chinesischen Wirtschaft

Der deutsch-chinesische Vertrag von 1861 hatte diese Kolonialbeziehung begründet, auf seiner Grundlage erfolgte die weitere politische und wirtschaftliche Expansion des Deutschen Reiches. Der Vertrag war keineswegs so unbedeutend wie bisher angenommen. Preußen/Deutschland wurde damit Teil des halbkolonialen Systems in China, eines Systems, das letztlich die chinesische Wirtschaft ruinierte und zu Aufständen und zu politischer Destabilisierung führte. Dieser Prozess wurde beschleunigt durch die weiteren Privilegien der von Arendt und dem deutschen Gesandten jahrelang verhandelten Zusatzkonvention von 1880. Weitere chinesische Häfen wurden für den Handel mit Deutschland geöffnet, mit viel zu niedrigen Zollsätzen, auf Kosten der heimischen Wirtschaft.

Arendt zählte nicht zu den gewaltbereiten Vertretern des Deutschen Reiches. Er fällte als Konsul gerechte Urteile, war ein korrekter Übersetzer, der nicht durch verfälschte Übersetzungen zusätzliche Vorteile herauszuschlagen suchte oder der seine chinesischen Verhandlungspartner gegenüber dem Auswärtigen Amt diffamierte, wie es manche Konsuln zur Rechtfertigung ihrer aggressiven Verhandlungsführung machten. Er wurde auch von chinesischer Seite als fairer sprachlicher und interkultureller Mittler geschätzt. Die Minister setzten bei den Kuli-Verhandlungen so viel Vertrauen in ihn, dass sie seine Übersetzungen der diversen Vertragsentwürfe nicht ständig überprüfen ließen.

Doch darin erschöpfte sich seine Rolle nicht: Carl Arendts Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte und die Professionalisierung der Beschäftigung mit China ist nicht hoch genug einzuschätzen. Ausgehend von einer profunden sprachwissenschaftlichen Qualifikation und auf der Grundlage des aus chinesischen Quellen und im Laufe seiner Tätigkeit generierten immensen Wissens gehörte er zu den ersten klassisch ausgebildeten Sinologen und war zugleich der Begründer der modernen Chinastudien in Deutschland, durchaus die erst viel später konzeptualisierten area studies vorwegnehmend. Vielfältig und breit angelegt ist sein wissenschaftliches Werk.

Er war es, der sich erstmals wissenschaftlich mit dem modernen China und seiner Sprache befasste, musste um seine Anerkennung als Wissenschaftler kämpfen, gegen das dominante Verständnis, welches nur das China der klassischen Texte als Forschungsobjekt betrachtete. Arendt beanspruchte jedoch Wissenschaftlichkeit auch für seine linguistischen Analysen und seine „Einführung in die Nordchinesische Umgangssprache“. Das von ihm entwickelte präzise Umschriftsystem und sein grammatisches Konzept stießen auf heftigen Widerspruch. Das moderne Chinesisch habe keine Grammatik und erlernen lasse es sich am besten auf der Straße, nicht im Klassenraum, polemisierte der Leidener Kollege Gustav Schlegel.

Er versuchte, gegen Vorurteile anzuschreiben

Darüber hinaus übersetzte und kommentierte Arendt Texte der literarischen Tradition Chinas, vor allem historische Romane, Volkserzählungen und Fabeln, die ihm Aufschluss gaben über die Psychologie des Volkes. Sprach- und Schriftstruktur sind für ihn Ausdruck des Denkens. In seinen ethnografisch-soziologischen Studien zeigt er die Komplexität der chinesischen Gesellschaft, sucht gegen herrschende Vorurteile anzuschreiben. Die Stellung chinesischer Frauen etwa, der er als erster Wissenschaftler eine eigene Studie widmet, sieht er als durchaus nicht so unterdrückt an, wie dies in Europa angenommen werde.

Arendt bildete am Seminar für Orientalische Sprachen die erste Generation deutscher China-Wissenschaftler und China-Experten aus, für die Wissenschaft und für den diplomatischen und Kolonialdienst. Er und seine Schüler stellten die notwendige Expertise, die das Deutsche Reich benötigte, um das koloniale Projekt in China erfolgreich zu realisieren. Hier verflechten sich – über das biografische hinaus – Wissensakkumulation und -produktion mit der Kolonialpolitik.

Nicht zuletzt ist die Geschichte Arendts ein Beispiel jüdischer Familien- und Sozialgeschichte in Deutschland. Arendts Vorfahren, mütterlicherseits Kaufleute in Königsberg, väterlicherseits westpreußische Handwerker, hatten über Generationen einen Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichstellung geführt, hatten mit den Emanzipationsgesetzen von 1812 neue Bildungschancen genutzt. Trotz der Konversion der Eltern zum Protestantismus mündete das in den 1820er Jahren nicht in eine gesicherte Existenz. Carl wuchs in prekären Verhältnissen als jüngster Sohn eines promovierten Volksschullehrers auf, machte früh Erfahrungen sozialer Marginalisierung. Und hatte trotzdem die Chance einer guten Ausbildung am renommierten Joachimsthalschen Gymnasium, absolvierte ein Studium an der Berliner Universität, lernte Chinesisch bei dem jüdischen Privatdozenten Heymann Steinthal und konnte damit einen sozialen Aufstieg schaffen – nicht einfach im preußischen Ständestaat und einem von Adligen dominierten diplomatischen Dienst. Dass lange nach seinem Tod 1902 mit der Verfolgung seines Sohnes und seiner Enkel durch die Nationalsozialisten auch diese Geschichte sozialen Aufstiegs ihr Ende fand, konnte Carl Arendt nicht vorhersehen.

Er wollte den Kuli-Handel in keiner Weise befördern

Arendts soziale und familiäre Herkunft bietet eine Erklärung auch für die vielfach zu beobachtende Nutzung seines Handlungsspielraums als subalterner Beamter im diplomatischen Dienst. Er war durchaus ein kolonialer Akteur, wenn auch kein militanter Verfechter hierarchisch und rassisch strukturierter Kolonialverhältnisse, verstand sich eher als Mittler zwischen Kulturen, noch von Ideen der Aufklärung, der Humanität und Gleichheit geprägt. Dies unterscheidet ihn von anderen Kolonialvertretern seiner Zeit.

Nach der Ratifizierung des spanisch-chinesischen Vertrages 1878, nach der Erledigung seiner Aufgaben als Dolmetscher, fand er sich nicht länger bereit, für den spanischen Gesandten Übersetzungsdienste zu leisten. Er wollte auch unter den verbesserten Bedingungen in keiner Weise den Kuli-Handel befördern. So weigerte er sich, den Prospekt einer Hongkonger Auswanderungsagentur ins Chinesische zu übersetzen, und beschied alle weiteren Anfragen, „Interpretendienste“ zu diesem Thema zu leisten, abschlägig.

Die Autorin ist Professorin em. für Sinologie/Chinastudien an der Freien Universität Berlin. Der Beitrag stützt sich auf ihre Monografie: „Kolonialpolitik und Wissensproduktion. Carl Arendt (1838–1902) und die Entwicklung der Chinawissenschaft“. LIT Verlag, 730 S.; 69,90 Euro.

Mechthild Leutner

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