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Ein Klinikmitarbeiter in Neu Delhi bringt Sauerstoff.

© Prakash SINGH/AFP

Update

Kliniken und Krematorien überlastet: Indien meldet 400.000 Neuinfektionen – an einem Tag

Indien hat sich zum Epizentrum der Coronavirus-Pandemie entwickelt. Die Lage ist außer Kontrolle. Internationale Hilfe rollt an. Ob das ausreicht, ist fraglich.

Es sind verstörende, unfassbare Szenen, die sich in der Coronavirus-Pandemie derzeit in Indien abspielen: Kliniken sind überfüllt, das Personal ist am Limit, es fehlt Sauerstoff, um Covid-19-Patienten zu beatmen. Da es für die vielen Erkrankten auch an Ambulanzfahrzeugen mangelt, versuchen Angehörige, ihre Familienmitglieder selbst zu medizinischen Einrichtungen zu transportieren. Oft vergebens – etliche sterben buchstäblich auf der Straße. Und die große Zahl der Covid-19-Toten schafft weitere Probleme: Die Krematorien in dem südasiatischen Land haben schon seit Tagen keine Kapazitäten mehr.

Am Samstag meldete der Staat mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern weltweit als erstes Land über 400.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Es seien fast 402.000 Fälle gemeldet worden, teilte das indische Gesundheitsministerium am Samstag mit. Damit erreichte Indien den neunten Tag in Folge einen Höchstwert. Die Gesamtzahl der Infektionen seit Beginn der Pandemie stieg auf rund 19 Millionen. Die Zahl der Covid-19-Toten erhöhte sich nach Angaben des Ministeriums um 3523 auf insgesamt fast 212.000.

Viele Kliniken weisen Patienten inzwischen ab, weil alle Betten belegt sind, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. So harrte ein 62-jähriger schwer atmender Patient verzweifelt vor dem Holy Family Hospital in Neu Delhi aus. „Wir sind seit sechs Uhr morgens auf der Suche nach einem Krankenhausbett“, sagte ein Freund, der den Kranken begleitete. „Wohin sollen wir nur gehen?“

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Zwar sind die Zahlen in Relation zur Einwohnerzahl im Vergleich mit anderen Ländern sogar noch geringer. So meldet Indien der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität zufolge pro eine Million Einwohner rund 157 Covid-19-Tote und 14.169 positive Tests. Im südamerikanischen Corona-Epizentrum Brasilien sind es 1928 Tote und 69.982 bestätigte Infektionen, auch die USA (1761/98.865) oder europäische Staaten wie Italien (1999/66.566), Frankreich (1563/84.760) und auch Deutschland (1002/41.064) liegen deutlich darüber.

Experten gehen allerdings in Indien bei den Fallzahlen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. Zudem bereitet die Dynamik des Infektionsgeschehens in dem Land, dessen Gesundheitssystem seit langem unterfinanziert ist und als völlig marode gilt, große Sorgen. Allein seit Anfang April wurden in dem Schwellenland rund sieben Millionen Ansteckungen verzeichnet.

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Wegen des Ende vergangenen Jahres vergleichsweise geringen Infektionsgeschehens wurden zudem die Corona-Schutzmaßnahmen stark gelockert. Es gab Massenveranstaltungen wie religiöse Feste, Wahlkampfauftritte und Sportevents, die zum Teil von zehn- und sogar hunderttausenden Menschen besucht wurden – meist ohne Masken und Abstand. Inzwischen sind die Maßnahmen in den meisten Regionen wieder verschärft worden. Der indische Premier Narendra Modi wird inzwischen für seine Corona-Politik scharf kritisiert.

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Ob der dramatische Anstieg der Infektionszahlen hauptsächlich auf die neue Virusvariante B.1.617 zurückzuführen ist, ist noch unklar. Der Virologe Christian Drosten hält die indische Coronavirus-Variante nicht für den entscheidenden Faktor für die verheerende zweite Welle. Die Mutante B.1.617 sei zwar etwas verbreitungsfähiger und robuster gegen die Immunität, sagte der Wissenschaftler von der Charité in Berlin im jüngsten NDR-Podcast „Coronavirus-Update“. Das sei auch im Vergleich mit anderen Varianten „nichts, was einen wirklich groß beunruhigt“.

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Dorsten zufolge gibt es weitere Effekte: Herdenimmunität sei in Indien einer Studie zufolge bei weitem noch nicht erreicht gewesen. Es werde nun eine Bevölkerung durchseucht, die schon ein bisschen die Anfangsimmunität aus den bisherigen Wellen zu verlieren beginne. Zudem sei die Impfquote bisher gering.

In Indien fehlt nun Impfstoff

Wegen der Mutante haben zahlreiche Länder wie Deutschland und am Samstag die USA inzwischen die Einreiseregeln verschärft. Das Robert-Koch-Institut hat bisher in Deutschland nur etwas mehr als 20 Fälle der Virusvariante B.1.617 registriert.

Ab Samstag haben in Indien eigentlich alle Erwachsenen ein Anrecht geimpft zu werden. Dies betrifft den Plänen der Regierung zufolge rund 500 bis 600 Millionen Menschen, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtet. Bisher war dies nur Menschen über 45 Jahren oder mit Vorerkrankungen möglich. Auch Beschäftigte im Gesundheitswesen wurden bereits geimpft.

Zehntausende Gläubige nahmen Mitte April ein Bad im Ganges.
Zehntausende Gläubige nahmen Mitte April ein Bad im Ganges.

© Anushree Fadnavis/Reuters

Indien hatte sich Anfang des Jahres noch als „Apotheke der Welt“ präsentiert und Millionen Impfdosen an ärmere Länder verschenkt. Nun fehlt dem Land selbst der Impfstoff. Bisher wurden etwa zehn Prozent der Einwohner einmal geimpft, rund zwei Prozent sind vollständig geimpft. Wie die Nachrichtenagentur dpa schreibt, ist in der Hauptstadt Neu Delhi unklar, wann wirklich alle Menschen über 18 Jahren geimpft werden. In der Finanzmetropole Mumbai wurden am Freitag die Impfzentren für mindestens drei Tage geschlossen.

Der deutsche Botschafter in Indien, Walter J. Lindner, sagte dem indischen TV-Sender CNN-News 18, dass Indien in der Coronavirus-Krise viel getan habe, Impfstoffe und Medikamente hergestellt habe. Nun sei es Zeit für Freunde, mitzuhelfen. Am startete ein erster Flug mit Hilfslieferungen aus Deutschland.

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Nach Angaben des Verteidigungsministeriums bringt eine Luftwaffenmaschine 120 Beatmungsgeräte sowie Medikamente nach Indien. Mit an Bord sind demnach 13 Kräfte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Sie sollen kommende Woche in Indien eine Anlage zur Herstellung von Sauerstoff für Covid-19-Patienten aufbauen und Personal vor Ort in die komplexe Anlage einweisen.

In der kommenden Woche sind weitere Flüge geplant. So soll mit zwei A400M-Transportflugzeugen die Sauerstoffanlage eingeflogen werden. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte die Lage in Indien als „Worst-Case-Szenario“ bezeichnet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte mitteilen lassen, Deutschland stehe „Seite an Seite in Solidarität mit Indien“.

Mehr als 40 Länder, darunter mehrere EU-Länder, haben Indien Hilfe zugesagt. Am Freitag traf eine erste Lieferung aus den USA ein. Ein Transportflugzeug des US-Militärs mit 400 Sauerstoffflaschen, anderer Klinikausrüstung und fast einer Million Corona-Schnelltests an Bord landete in Neu Delhi. Auch aus Russland sind schon erste Lieferungen eingetroffen.

Der britische Thronfolger Prinz Charles forderte mehr internationale Hilfe. „Zusammen werden wir diesen Kampf gewinnen“, schrieb Charles am Mittwoch in einer öffentlichen Nachricht an die Menschen in Indien. Er sei tief traurig über die tragischen Bilder aus dem Land. Die Betroffenen in Indien seien in seinen Gedanken und Gebeten.

Hilfsorganisationen rufen zu Spenden aus

Zu Spenden riefen am Mittwoch auch die Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas international auf. Caritas stellt nach eigenen Angaben sofort weitere 500.000 Euro für Hilfen bereit. Damit sollten 150 Quarantäne-Zentren in der Nähe von Krankenhäusern unterstützt werden. Dafür seien etwa Inhalationsgeräte und Sauerstoffmessgeräte angeschafft worden.

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Zudem wolle Caritas Aufklärungskampagnen starten, in denen über Hygieneregeln und Impfungen informiert werde. Neben medizinischer Hilfe sei es auch wichtig, die Ärmsten wie etwa Wanderarbeiter zu unterstützen, deren Not sich wegen der vielerorts wieder geltenden Ausgangsbeschränkungen weiter verschärfe.

Ein Mitarbeiter sitzt in einem Krematorium zwischen Scheiterhaufen.
Ein Mitarbeiter sitzt in einem Krematorium zwischen Scheiterhaufen.

© Money Sharma/AFP

Wie das Entwicklungshilfswerk Misereor am Freitag in Aachen berichtete, sei die Situation vor allem in den Mega-Metropolen des Landes wie Neu Delhi oder Mumbai besonders verzweifelt, wie dortige Partner schilderten. „Gerade die Bevölkerung in den engen Armenvierteln der Städte, das Gesundheitspersonal oder die vielen Leichenbestatter – meist Dalits, die am untersten Ende der sozialen Schicht stehen – sind der Pandemie oft hilf- und schutzlos ausgeliefert. Zudem leiden sie Hunger und müssen weiterarbeiten, um zu überleben“, sagte die Leiterin der Abteilung Asien und Ozeanien, Elisabeth Bially, der Nachrichtenagentur KNA. Aber auch auf dem Land spitze sich die Situation zu.

Ähnlich äußerte sich die Welthungerhilfe. Die Ärmsten könnten sich am wenigsten schützen, indem sie zu Hause blieben, sagte die Landesdirektorin der Organisation, Nivedita Varshneya. „Sie müssen täglich auf Arbeitssuche gehen oder auf den Feldern arbeiten, denn sonst haben sie kein Einkommen und keine Nahrung zum Überleben. Gleichzeitig ist auf dem Land die Unwissenheit über das Virus hoch und Schutzregeln werden auch aus der Not heraus nicht befolgt.“

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