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Komplexes Verhältnis. Obwohl die Nazis die Kirchen marginalisieren wollten, wurde die christliche Religiosität durch den völkischen Neuglauben oft nicht verdrängt, sondern überwölbt. Auch in der NSDAP gab es viele „christliche Nationalsozialisten“.

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Kirchen und Nationalsozialismus: Vom Kreuz zum Hakenkreuz

Zahlreiche Deutsche waren gleichzeitig Christen und Nationalsozialisten. Der völkische Neuglaube löste die christliche Tradition nicht ab, sondern verzahnte sich mit ihr.

Brach Nazideutschland deshalb so vollständig mit allem, was bislang als heilig und gut gegolten hatte, weil den Deutschen der Gottglaube ausgetrieben wurde? Oder sind die in der Shoah und an der Ostfront verübten Gewaltexzesse im Gegenteil die Folge eines religiösen Wahns? Manfred Gailus, Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, gibt hierauf eine eindeutige Antwort.

Gegen jene Lesart, die den NS als eine Epoche „forcierter Gottlosigkeit“ versteht, spricht Gailus von „kollektivem Hunger auf Heil“, einer „Rückkehr des Religiösen“ unter Hitler und allgemein von „gläubigen Zeiten“. Das Buch zum Thema, gerade erschienen, führt die Ergebnisse seiner seit drei Jahrzehnten andauernden Forschung zum Verhältnis von Religion, Kirche, Konfessionen und Nationalsozialismus in konzentrierter Form zusammen.

So stellt Gailus unter anderem die Frage, wie die Deutschen trotz des propagierten Gegensatzes von Nationalsozialismus und Christentum, in „beiden Welten“ zu Hause sein konnten. Die Zahlen der Religionsstatistik nämlich offenbaren in der Tat ein merkwürdiges Bild.

[Lesen Sie hier den Essay von Christoph David Piorkowski zur Frage, ob der Holocaust ein singuläres historisches Ereignis war, oder in der Tradition kolonialer Genozide steht]

Völkisch-christlicher Doppelglaube

96 Prozent der Deutschen gehörten den christlichen Konfessionen an. Zwei Drittel davon waren protestantisch geprägt, das andere Drittel katholisch. Gleichzeitig hatte die Massenpartei NSDAP zu Hochzeiten neun Millionen Mitglieder. „Zahlreiche Menschen praktizierten eine Doppelgläubigkeit, sie blieben ihrer christlichen Sozialisation verhaftet und begeisterten sich gleichzeitig mit gläubiger Emphase für das Deutsche Volk und seinen angeblichen Führer“, sagt Gailus im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Dass der Nationalsozialismus ein verschwörungsideologisches Glaubenssystem darstellte, in dem die christliche Theologie durch einen metaphysisch überhöhten Volksbegriff abgelöst wurde, ist dem Historiker zufolge nur teilweise richtig. Denn obwohl die Nazis beabsichtigten, die Kirchen als gesellschaftliche Kräfte vollends zu marginalisieren, wurde die christliche Religiosität durch den völkischen Neuglauben oft nicht verdrängt, sondern vielmehr überwölbt.

Geschichtsphilosophisch betrachtet könnte man sagen, dass das Christentum vom Nationalsozialismus im dialektischen Sinne „aufgehoben“, also „negiert“ und doch „bewahrt“ wurde.

1933 als religiöses Erweckungserlebnis

Denn nicht nur der in völkische Kategorien übersetzte religiöse Antijudaismus deutet auf Kontinuitäten im Wandel. So trat der Hitlerismus auch das Erbe eines christlichen Messianismus an. Jedenfalls sei das Jahr 1933 von Christen, Konservativen, Deutschnationalen und Nationalsozialisten gleichermaßen als religiöses Erweckungserlebnis empfunden worden, das das Ende der so genannten „Gottlosenrepublik“ von Weimar besiegelt habe, sagt Gailus.

Hitler wurde von vielen als jesusartige Erlösergestalt empfunden. „Der Erste Weltkrieg, die darauffolgenden Revolutionsunruhen, der Moderneschock durch den Kollaps der Monarchie, der Versailler Vertrag, die Hyperinflationszeit Anfang der 20er-Jahre und die Weltwirtschaftskrise zu deren Ende hin beförderten einen ungeheuren Hunger auf Heil“, sagt Manfred Gailus.

Viele politische Parteien, allen voran die NSDAP, seien zu „Trägern heilsversprechender Weltanschauungen mutiert, die nicht nur Lösungen, sondern Erlösungen anboten“.

Erlösungsantisemitismus

Die Juden wurden in der nationalsozialistischen Heilserzählung als Antipoden zum Guten schlechthin, als „Gegenrasse“ der Arier und Todfeind der Deutschen beschrieben. Manfred Gailus knüpft hier an Saul Friedländers viel diskutierte These vom „Erlösungsantisemitismus“ an. So betonte Friedländer, dass Auschwitz nur deshalb geschehen konnte, weil die große Mehrheit des deutschen Volkes zum Führer Adolf Hitler eine quasi-religiöse Beziehung unterhielt und der antisemitischen Erlösungsfantasie weitgehend aufgesessen war.

Demnach wurde die Geschichte als Schicksalskampf zwischen guten und bösen Mächten gelesen, was die religionstypischen Bedürfnisse nach Sinn, Orientierung und Komplexitätsreduktion befriedigte. Auch Gailus meint, der totale Vernichtungsanspruch des Holocaust sei letztlich nur durch den religiösen Charakter des Nationalsozialismus zu erklären – was ihn von anderen Genoziden deutlich unterscheide.

Berlin 1933. Christen, Deutschnationale und Nationalsozialisten feierten die Machtübernahme Hitlers als Ende der vermeintlich "gottlosen" Republik von Weimar.
Berlin 1933. Christen, Deutschnationale und Nationalsozialisten feierten die Machtübernahme Hitlers als Ende der vermeintlich "gottlosen" Republik von Weimar.

© picture-alliance/ dpa

Auf der individuellen Ebene sei für viele Deutsche dabei ein christlich-völkischer „Synkretismus“ kennzeichnend gewesen, meint Gailus. „In unterschiedlich komponierten religiösen Gemengelagen mischten sich bei vielen Zeitgenossen christliche Glaubens- und Traditionsbestände mit einem deutschen Gottglauben.“

Eine Verschränkung von biblischen und völkischen Motiven hat vor einigen Jahren auch die Berliner Historikerin Dagmar Pöpping in ihrer Studie über Kriegspfarrer an der Ostfront untersucht. Was etwa den Antibolschewismus angeht, seien die christlichen von den nationalsozialistischen Diskursen kaum zu unterscheiden gewesen, meint Pöpping.

Sowohl die katholischen als auch die evangelischen Pfarrer verstanden die atheistischen Bolschewiki als seelenlose Geschöpfe. Diese Lesart, mit der man die Kommunisten aus dem Menschsein hinausinterpretierte, ließ sich beinahe nahtlos mit der nationalsozialistischen Vorstellung vom „Untermenschen“ verschränken. Im Hinblick auf „die Juden“ findet sich in den von Pöpping untersuchten Tagebuchquellen mitunter auch die Idee, ihre Vernichtung sei als göttliche Konsequenz der „uralten jüdischen Volksschuld“ zu interpretieren.

Religiöse Konkurrenz in der NSDAP

Doch nicht nur auf individueller, sondern auch auf religionspolitischer Ebene gab es ein Gegen-, Mit-, und Ineinander verschiedener religiöser Strömungen. „Außerhalb der Kirchen und jenseits der Hitlerpartei schlossen sich postprotestantische Deutschgläubige mit dem Anspruch auf staatliche Anerkennung als dritte Konfession zusammen“, schreibt Gailus in seinem Buch „Gläubige Zeiten“. Diese hätten mit den anderen beiden Konfessionen darum konkurriert, die dem deutschen Volk im „Dritten Reich“ angemessene Glaubensrichtung zu werden.

Auch in der NSDAP selbst gab es verborgene religiöse Konkurrenzen. Hier standen sich laut Gailus „christliche Nationalsozialisten“ und „antichristliche Gottgläubige“ als Gesinnungsfraktionen gegenüber. Dabei sei es bezeichnend, dass der Protestantismus viel tiefgehender nationalsozialistisch durchdrungen wurde als der Katholizismus.

Die Juden galten in der NS-Heilserzählung als "Gegenrasse" der Arier und Antipoden zum Guten.
Die Juden galten in der NS-Heilserzählung als "Gegenrasse" der Arier und Antipoden zum Guten.

© picture-alliance/ dpa

So ließ sich jener leichter in die völkische NS-Ideologie einbinden, weil es anders als im katholischen Glauben nicht die Anbindung an Rom und den Papst und somit keine „Führerkonkurrenz“ und keine Rivalität zwischen der Zugehörigkeit zum Deutschen Volk und der Zugehörigkeit zur Kirche gab.

Protestanten, Katholiken und die Shoah

„Etwa 20 Prozent der evangelischen Pfarrer waren Parteimitglieder, die Anzahl der katholischen Priester lag bei unter einem Prozent“, sagt Gailus. Auch seien Katholiken intensiver verfolgt worden. „Neben etwa 30 evangelischen Pfarrern waren im Dachauer Pfarrerblock über 300 katholische Geistliche aus dem Deutschen Reich interniert.“

Allerdings sollten diese Zahlen nicht dazu führen, die Katholiken insgesamt von ihrer ebenfalls eklatanten Mittäterschaft zu amnestieren. So habe es in beiden Kirchen ein breites Holocaustwissen, aber fast keinen öffentlichen Widerspruch gegeben. Stattdessen, von Ausnahmen abgesehen, Schweigen bis hin zur Mittäterschaft – was auch die Forschung Dagmar Pöppings unterstreicht.

Zudem sei der Unterschied zwischen protestantischer und katholischer NS-Affinität nur auf professioneller Ebene feststellbar, sagt Gailus. Die ganz normalen Gläubigen nahmen sich nichts.

Lakonisch resümiert der Historiker: „Die Vernichtung fand statt. Sie wurde aus einer christlichen Gesellschaft heraus vollzogen.“

[Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. Herder Verlag, 2021. 224 Seiten, 20 Euro.]

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