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Wann werden die Schulen wieder geöffnet?

© Sven Hoppe/dpa

Warnung vor Folgen des Lockdowns: „Kitas und Schulen in Brennpunkten müssen sofort geöffnet werden“

Kinderärzte-Präsident Jörg Dötsch ist wegen zunehmender Vernachlässigungen von Kindern im Lockdown in großer Sorge. Die Politik ignoriere die Datenlage.

Jörg Dötsch (55) ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Der Professor leitet die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln.

Herr Dötsch, was sagen Sie der Bundeskanzlerin, wenn sie anruft und fragt: Was machen wir ab Mitte Februar mit den Schulen?
Unsere Strategie wäre, zu schauen, wo leiden welche Kinder am stärksten. Dazu liegen genug Informationen vor. Dort, in den sozialen Brennpunkten, wo wir am meisten Sorge um die Gesundheit, das Wohlergehen und auch die Bildung haben müssen, sollten wir gezielter aktiv werden. In diesen Bereichen müssen Kitas und Schulen so schnell wie möglich, am besten sofort, wieder geöffnet werden.

Das heißt, der Rahmen, den die Bundesländer setzen, ist zu groß?
Ja, es muss auf lokaler Ebene entschieden werden, wo welche Kitas und Schulen dringend geöffnet werden sollten – in den Städten der Ballungsräume eigentlich sogar in den einzelnen Bezirken. Außerdem sollten die Behörden versuchen, mit Ärzten und Wissenschaftlern herauszufinden, ob gerade diese Kitas und Schulen durch ein gezieltes Testsystem sicherer gemacht werden können – für Kinder, Eltern und das Personal. Es muss dann eine kontinuierliche Überwachung geben. Nicht als Kriterium für die Öffnung, sondern um den Prozess zu begleiten.

Erste Politiker wie Thüringens Bildungsminister sagen aber bereits jetzt, auch wegen der britischen Virusvariante müssten die Schulen wohl bis Ostern geschlossen bleiben. Was sagen Sie dazu?
Schulen und Kitas als einzige Maßnahme weiter dicht zu lassen, widerspricht allen wissenschaftlichen Daten, die wir im Moment haben. Eine solche Aussage halte ich in keiner Weise für belegt und daher auch für fahrlässig. Allein das Schließen der Schulen hat die Pandemiesituation nicht verändert, sondern der Maßnahmenkatalog insgesamt.

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Es geht dann immer wieder auch um die Infektiosität von Kindern…
Und die ist, das zeigen relativ viele Studien, deutlich geringer als bei Erwachsenen. Es gibt unterschiedliche Zahlen, aber man geht davon aus, dass ein Kind ein anderes zwischen drei und zehn Mal seltener ansteckt als ein Erwachsener einen anderen. Prinzipiell sind jüngere Kinder weniger infektiös als ältere. Und wir haben keine Informationen, dass dies mit den aktuellen neuen Mutationen grundlegend anders ist.

Wir können das nicht ausschließen, aber es gibt derzeit keine Daten, die das belegen würden. Das hat uns auch der Präsident des Robert Koch Instituts, Lothar Wieler, bestätigt, den wir als Fachgesellschaft explizit um Einschätzung gebeten hatten, ob die geringere Ansteckung, die Kinder haben, bei der neuen Variante erhalten bleibt. Das hat uns natürlich erstmal beruhigt.

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In Ihren Forderungen schwingt deutlich Kritik an der Politik mit…
Ja, als Kinder- und Jugendarzt wünsche ich mir, dass man in dieser Pandemie die wirklich bestehenden Fakten als Grundlage für Entscheidungen nimmt und nicht immer wieder – wie auch Kanzlerin und Ministerpräsidenten – zu früh ein Machtwort spricht, das zwar vielleicht logisch klingt, aber nicht durch Daten belegt ist.

Wir Kinderärzte kritisieren, dass die Politik Entscheidungen trifft, die zwar vielleicht im Großen und Ganzen einen Effekt haben, aber bei denen man nicht die Nebenwirkungen auf eine der schwächsten Bevölkerungsgruppen, nämlich die Kinder, berücksichtigt. Gerade weil wir nicht wissen, wie lange die Pandemie uns noch beschäftigen wird.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Was kritisieren Sie noch?
Immer wieder wird das relevante Faktum in Abrede gestellt, dass Kinder in dieser Phase als Gruppe an sich durch Corona-Auflagen mehr leiden und mehr Nachteile als Vorteile haben. Kinder können zwar krank werden, aber sie werden seltener krank als Erwachsene und sie werden weniger schlimm krank. Und da Kinder weniger krank werden, ist die Abwägung der Risiken zu erkranken gegenüber den Einschränkungen durch den Lockdown deutlich kritischer zu bewerten als bei älteren Erwachsenen.

Aber was ist mit den Warnungen, dass Enkel zum Beispiel ihre deutlich gefährdeteren Großeltern anstecken können?
Natürlich muss sich hier eine Gruppe, die Kinder, erst einmal in Solidarität für eine andere, die älteren Menschen, üben. Aber dann muss man den Kindern auch Alternativangebote machen. Und dies ist kaum möglich. Und daher sollten andere Maßnahmen für diejenigen in den Vordergrund gestellt werden, die wirklich gefährdet sind.

Die Impfungen älterer Menschen sind ein erster Schritt dahin. Aber das muss auch konsequent umgesetzt werden. Und die Pflegeheime müssen noch stärker in den Fokus genommen werden. Es kann nicht sein, dass wir die Kinder dafür verantwortlich machen, dass wir weniger Interaktion in der Gesellschaft haben.

Professor Jörg Dötsch (55) von der Uniklinik Köln ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).
Professor Jörg Dötsch (55) von der Uniklinik Köln ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).

© Medizin Foto Köln

Wie geht es den Kindern und Jugendlichen in Deutschland im zweiten Lockdown?
Das ist sehr stark abhängig von zwei Faktoren. Einer ist sicherlich das Alter der Kinder. Nach allem, was wir wissen, leiden vor allem kleinere Kinder. Größere kommen mit der Situation deutlich besser klar, die können sich zum Beispiel schon über die sozialen Netzwerke austauschen und Kontakt mit Freunden halten. Und dann muss man noch eine weitere Abstufung machen…

Welche?
Die Frage ist, ob Eltern von ihrer Bildung und Ausbildung her in der Lage sind, ihre Kinder zu Hause zu fördern, zu beschulen, ihnen attraktive Angebote zu machen. Dort leiden die Kinder viel weniger als in Familien, wo dies nicht der Fall ist und vielleicht auch noch der Wohnraum sehr beengt ist.

Das heißt, wir können uns eigentlich sicher sein, dass Kinder, die aus sozial schwächeren Verhältnissen kommen, nochmal härter getroffen werden, erheblich härter?
Eindeutig. Wir sehen das auch in den Krankenhäusern gerade in den Ballungsräumen. Unser Universitätsklinikum liegt in einem eher bürgerlichen Bezirk von Köln. Die Kliniken, die in sozial schwächeren Gegenden angesiedelt sind, haben erheblich mehr Probleme mit verschleppten Erkrankungen, Fällen von Vernachlässigungen und auch Misshandlungen.

Worunter leiden die Kinder?
Zum einen fehlt natürlich der Kontakt zu Freunden enorm. Zum anderen werden aber auch bereits bestehende Bildungslücken nochmal deutlich größer werden. Und das auch deshalb, weil niemand da ist, der das auffangen kann. Es fehlt der so wichtige Kontakt zur Lehrerin oder zum Lehrer.

Und die sind der Regel wirklich gut geschult und haben einen Blick auf die Kinder: Wie sind sie angezogen? Wie verhalten sie sich? Wie äußern sie sich? Dieses unglaublich wichtige Regulativ der Lehrkräfte, die erkennen, was bei einer Familie vielleicht im Moment im Argen liegt, das geht gerade komplett verloren.

Manifestiert sich die Belastung der Kinder im Praxisalltag denn auch in Krankheiten wie beispielsweise Depressionen?
Das Problem ist, wir werden einen wirklichen Überblick darüber erst in vermutlich drei bis vier Monaten haben, wenn die Daten wissenschaftlich aufgearbeitet und begutachtet worden sind. Aber aus dem ersten Lockdown wissen wir definitiv: Die Lage hat negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von Kindern. Dazu gibt eine Vielzahl von Untersuchungen, die das belegen. Wie sich der zweite Lockdown nun zusätzlich auswirkt, müssen wir abwarten. Es ist zu früh, um das wissenschaftlich zu beurteilen.

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Sehen Sie Unterschiede zum Frühjahr?
Ja, denn wir haben keinen so strikten und scharfen Lockdown wie im Frühjahr, wo ja zum Beispiel sogar die Spielplätze gesperrt waren. Es ist aktuell nicht so wie in der ersten Phase. Damals wurden Kinder, die dringend medizinisch behandelt werden mussten, gar nicht bei Ärzten oder in Kliniken vorgestellt. Das lässt uns derzeit hoffen. Denn im Frühjahr sind ganz viele Krankheiten zu spät erkannt worden.

Was meinen Sie konkret?
Ein klassisches Beispiel, das wissenschaftlich belegt ist, sind Kinder mit Diabetes. Das fällt eigentlich dadurch auf, dass die Kleinen mehr trinken, großen Durst haben. Normalerweise gehen Eltern dann zum Kinderarzt. Aber im ersten Lockdown sind die Kinder oft erst dann gebracht worden, wenn der Stoffwechsel schon gestört war. Zum Teil war der Zustand der Kinder da schon lebensbedrohlich.

Auch bei den Krebserkrankungen haben wir im ersten Lockdown registriert, dass mehr betroffene Kinder später gebracht wurden als das früher der Fall war. Aber nochmal: Auch hier gilt, die Folgen des zweiten Lockdowns werden wir erst in einigen Monaten wirklich sehen.

Viele kleinere Kinder leiden sehr unter dem Lockdown.
Viele kleinere Kinder leiden sehr unter dem Lockdown.

© Imago Images/Photothek/Thomas Imo

Bezogen auf den ersten Lockdown gab es erschütternde Berichte ihrer Kollegen von Misshandlungen. Ein Arzt sagte, er sehe Kinder mir Verletzungen, die man sonst nur von Autounfällen kenne. Ist das diesmal auch so?
Auch das werden wir erst in zwei, drei Monaten wirklich wissen. Es gibt ja verschiedene Formen der Kindswohlgefährdung. Die Misshandlungen, die Sie ansprechen, sind zum Glück nicht die Mehrheit. Wir brauchen mehr Daten, um zu sehen, ob sich das statistisch relevant verändert hat.

Was uns viel mehr Sorgen macht, sind die Vernachlässigungen zum Beispiel in Form von mangelnder Körperpflege, falscher Ernährung oder fehlender Gesundheitsvorsorge und die Schäden, die durch fehlende angemessene Förderung entstehen. Und da müssen wir ganz klar davon ausgehen, dass dies zunimmt.

Was macht man, wenn man das Gefühl hat, bei einem Kind stimmt etwas nicht? Die wenigsten werden beim Nachbarn klingeln…immer die Polizei anrufen?
Das ist ja eine prinzipiell sehr schwierige Frage, weil es darum geht, wie weit wir dazu verpflichtet sind, Verstöße in unserem gesellschaftlichen Leben anzuzeigen und wann das zum Denunziantentum wird. Wenn man das Gefühl hat, es gibt irgendwelche Probleme in der Nachbarschaft, dann ist der erste und mutigste Weg sicherlich, das anzusprechen. Wenn das nicht geht, wenn da keine Einsicht kommt, wenn sich die Vorfälle zu häufen scheinen, dann gibt es noch einen Weg, bevor man die Polizei einschaltet.

Der wäre?
Man dann das Jugendamt informieren. Manchmal haben die schon einen Kontakt in die Familie und können so leichter als Regulativ eingreifen als die Polizei. Aber wenn man klare Hinweise dafür hat, dass einem Kind körperlich Gewalt angetan wird, wenn man Verletzungen sieht oder so etwas gemeldet bekommt, dann bleibt nur noch der Anruf bei der Polizei. Das machen wir in den Kinderkliniken auch so. Der Versuch, abgestuft vorzugehen ist gut, es gibt aber klare Grenzen.

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Sie haben es erwähnt: Niemand weiß, wie lange die Coronavirus-Krise uns noch in Atem halten wird. Noch mehr Menschen als im ersten Lockdown sind im Homeoffice, viele Eltern am Rande der Überforderung. Was raten Sie den Betroffenen?
Überforderte Eltern sollten sich dringend extern Hilfe holen. Und zwar schnell. Sei es bei Freunden oder durch eine Betreuungseinrichtung, denn die gibt es ja immer noch. Oder im Gespräch mit dem Kinderarzt, wenn man fühlt, dass man seine eigenen Impulse nicht mehr im Griff hat.

Wichtig ist auch, dass die Menschen verstehen, dass unser System in Deutschland so aufgebaut ist, dass es um Hilfe für die Familien geht. Das Jugendamt ist keine Instanz, die Ziel hat, Eltern ihre Kinder wegzunehmen. Und da kann man sich auch selbst hinwenden. In den Ämtern finden sich kompetente Ansprechpartner, die auch Hilfe vermitteln können.

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