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Schulen sind bislang im Wechselunterricht geöffnet.

© Christian Charisius/dpa

Kinder im Ausnahmezustand: Öffnet die Schulen – vollständig!

Kinder sind in einem Ausnahmezustand. Die Kultusminister sollten ihre Ministerpräsidenten daher drängen, Schulen vollständig zu öffnen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jan-Martin Wiarda

Ausgerechnet die vielgescholtenen Kultusminister. In der größten politischen Krise der vergangenen Jahrzehnte zeigten sie eine Konsequenz und eine Einigkeit, die man sonst so oft bei ihnen vermisst hatte.

Im vergangenen Herbst war das: Die bundesweiten Corona-Inzidenzen kletterten unaufhörlich, übersprangen die 100, nahmen Kurs auf die 200. Die Rufe nach Schulschließungen wurden immer lauter, die Bildungspolitiker aber stemmten sich gemeinsam und öffentlich gegen den Druck. Sie pochten auf die im Sommer verabredete Priorität von Bildungseinrichtungen und Kindern in der Coronakrise und schafften es so, ihre Regierungschefs lange bei der Stange zu halten – und die Schulen inzidenzunabhängig offen.

Bis sie es nicht mehr schafften und Mitte Dezember der Lockdown dann doch kam. Fast skurril war, dass Ministerpräsidenten wie Markus Söder (Bayern), Peter Tschentscher (Hamburg) oder Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg), die eben noch ihre Kultusminister gestützt hatten, sich plötzlich als die Ober-Vorsichtigen gerierten und intern – manchmal auch in aller Öffentlichkeit – über die Kultusminister herzogen, die ja wohl den Ernst der Lage nicht erkannt hätten.

Von "blutigen Nasen" ist die Rede

Kein Wunder, dass sich einige der Bildungspolitiker, mürbe von den ständigen Anfeindungen von Teilen der Lehrerverbände, Eltern und Medien und nun noch im Stich gelassen von den eigenen Regierungschefs, zurückzogen. Von „blutigen Nasen“, die man sich geholt habe, war die Rede“, von „schweren Verletzungen“ gar. Jedenfalls hielten die meisten Kultusminister kaum noch gegen, als aus den angekündigten wenigen Tagen viele Wochen komplett geschlossener Schulen wurden.

Doch spätestens jetzt wäre ihre erneute Zivilcourage wichtig wie nie. Die Inzidenzen sinken, die Ministerpräsidenten geraten in einen immer stärkeren Öffnungstaumel – nur die Schulen stellen sie zu oft hinten an. Aus Kalkül, damit mehr Spielraum für Wirtschaft und Gastronomie übrigbleibt? Weil Eltern und Familien nicht mehr können und ihre Proteste politisch weniger schmerzen als der Normalitätsdrang der Alten, der zu einem großen Teil bereits Geimpften?

Kinder im Ausnahmezustand

Fest steht: Die meisten Kinder und Jugendlichen befinden sich seit fünf Monaten im Ausnahmezustand geschlossener und jetzt teilgeschlossener Schulen, verbotener Freizeitaktivitäten und untersagter sozialer Kontakte. Fest steht auch, dass nicht nur Bildungsforscher vor den Lernrückständen warnen, sondern Verbände der Kinder- und Jugendmediziner die psychosozialen Folgen der Schließungen für weitaus dramatischer halten als die sehr seltenen Fälle schwerer Erkrankungen unter Kitakindern und Schülern.

Ein Porträtbild von Jan-Martin Wiarda.
Unser Kolumnist Jan-Martin Wiarda. Auf seinem Blog www.jmwiarda.de kommentiert er aktuelle Ereignisse in Schulen und Hochschulen.

© Privat

Die Kultusminister müssten gemeinsam aufstehen. Die Uhr tickt. Je nach Bundesland sind nur noch zwischen fünf Wochen und gut zwei Monaten bis zu den Sommerferien übrig. Die Kultusminister müssten jetzt in einer gemeinsamen Erklärung darauf hinweisen, dass sogar die angeblich so strenge Bundesnotbremse ab einer Inzidenz von unter 100 die vollständige Öffnung der Schulen für den täglichen Präsenzunterricht, und zwar für alle Altersgruppen zulässt. Und die einzigen, die dies verhindern, sind die Ministerpräsidenten.

Schüler werden regelmäßig getestet

Die Kultusminister müssten und könnten das auch von vielen Regierungschefs verbreitete Narrativ – dass Kinder und Jugendlichen sich, Stichwort Virusmutationen, so viel häufiger ansteckten als früher und komplette Schulöffnungen daher undenkbar seien – gleich zweifach entkräften: indem sie darauf hinweisen, dass Schüler die einzige Altersgruppe sind, die zweimal in der Woche verpflichtend getestet werden, was die Dunkelziffer senkt und die offiziellen Meldezahlen hochtreibt.

Und indem sie daran erinnern, dass es schon seit Februar von Wissenschaftlern, Verbänden und Bildungspraktikern gemeinsam erarbeitete, umfassende Hygiene-Richtlinien gibt, wie Unterricht abhängig vom Infektionsgeschehen möglichst sicher stattfinden kann. Richtlinien, wie sie vergleichbar übrigens für keinen anderen Lebensbereich außerhalb der Pflege existieren.

Verweis auf Israel und Großbritannien

Schließlich könnten die Kultusminister auf Israel, Großbritannien und andere Länder verweisen. Dort zeigt sich: Wann immer die Corona-Inzidenzen in der Gesamtbevölkerung stark sinken, tun sie dies auch bei den Schülern, komplett im Gleichschritt, selbst wenn diese noch nicht geimpft und die Schulen komplett offen sind. Was das neuerdings auch vom Ärztetag vertretene Argument, die volle Rückkehr zur Normalität könne es für Kinder und Jugendliche erst nach ihrer Impfung geben, so absurd wie gefährlich macht.

Auch Forderungen, in möglichst viele Klassenräume Luftfilter, Lüftungsanlagen oder ähnliches einzubauen, dürfen nicht plötzlich zu Voraussetzungen für Unterricht in voller Klassenstärke umgewandelt werden – zumal die Expertenmeinungen über Sinn und Nutzen solcher Maßnahmen weit auseinandergehen.

In der öffentlichen Debatte über die Rechte und Pflichten von Kindern und Jugendlichen in der Coronakrise ist, so scheint es, seit Dezember etwas Gefährliches verrutscht. Die Kultusminister haben im vergangenen Herbst den Schülern zuliebe den Rücken gerade gemacht. Sie müssen es jetzt noch einmal tun.

Der Autor ist Journalist für Bildung und lebt in Berlin. Auf seinem Blog www.jmwiarda.de kommentiert er aktuelle Ereignisse in Schulen und Hochschulen.

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