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Eine Gemeindemitarbeiterin misst mit einem Fieberthermometer die Körpertemperatur eines Passanten.

© Xiao Yijiu/XinHua/dpa

Kaum Vorhersagen möglich: Wie geht der Coronavirus-Ausbruch weiter?

Die Informationen über die Epidemie sind lückenhaft, warnen Forscher. Der Erreger könnte längst weiter verbreitet sein, als offizielle Daten zeigen.

Seit Wochen breitet sich das neue Coronavirus nun schon aus, täglich meldet die Weltgesundheitsorganisation mehr Infizierte und Tote. Wie geht es weiter, ist die Frage, die sich viele stellen. Und: Was bedeutet das für uns? Damit sich Gesundheitssysteme weltweit besser auf die Seuche vorbereiten können, müssen sie wissen, wie sich die Situation in China entwickelt. Aber genau das ist schwieriger als gedacht. Denn nach wie vor fehlen Forschern wichtige Daten.

Bestes Beispiel sind die Fallzahlen: Dieser Tage berichteten Medien, dass seit dem 5. Februar weniger Infektionen aus China gemeldet wurden als in den Tagen davor. In den sozialen Netzwerken wurde diskutiert, was das Abflachen der Kurve mit den Neuinfektionen bedeuten könnte. Kann es wirklich stimmen, dass der Höhepunkt der Epidemie erreicht ist?

"Mir ist keine Datenquelle bekannt, nach der es möglich wäre, die Steigung überhaupt vernünftig abzuschätzen", sagte Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) dem Tagesspiegel.

Krause bemängelt, dass die Fallmeldungen aus China immer noch in unterschiedlich groß aggregierten Paketen zu kommen scheinen, ohne dass Experten die Möglichkeit hätten, die Fälle nach dem Datum der Diagnose oder der Erkrankung zeitlich zuzuordnen. "Das wäre aber dringend erforderlich", so der Mediziner.

Hintergrund über das Coronavirus:

Man kann den zwei Prozent Sterblichkeit nicht trauen

Derzeit jedoch melde China frisch diagnostizierte Fälle zusammen mit Personen, die schon vor Wochen als angesteckt registriert wurden. Diese Verzögerung macht die aktuellen Fallzahlen höchstwahrscheinlich ziemlich ungenau.

Das liegt vermutlich auch daran, dass in China Krankenhäuser und Behörden mit der Situation überfordert sind. Und auch daran, dass es schlicht nicht genug Virus-Tests und Ressourcen gibt, schreibt der Harvard-Epidemiologe Michael Mina auf Twitter. "Ich kenne kein einziges Labor in den USA, das zum jetzigen Zeitpunkt mit dieser Anzahl von Tests und Berichten klar kommen würde – und wir hatten einen Monat Zeit, um uns darauf vorzubereiten." 

All das führt zu einem anderen Problem: Niemand weiß zum jetzigen Zeitpunkt, wie tödlich das neue Coronavirus wirklich ist. Um das zu beurteilen, brauchen Experten eine verlässliche Messgröße: die "case fatality rate".

Sie gibt an, welcher Anteil der Menschen, von denen bekannt ist, dass sie sich angesteckt haben, gestorben ist. Bislang sind etwa 35.000 Menschen als infiziert gemeldet, mehr als 700 sind an der Infektion gestorben. Das ergibt eine Sterblichkeit von etwa zwei Prozent. Diese Zahl wird seit Wochen immer wieder genannt, bisher bleibt sie recht stabil. Und trotzdem kann man ihr nicht trauen. 

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Viele Infizierte tauchen in keiner Statistik auf

"Wir haben keine belastbare Bezugsgröße für die Berechnung der Sterblichkeit", sagt Gérard Krause. Nicht nur, dass man nicht weiß, wie aktuell die Zahl der als infiziert gemeldeten Personen wirklich ist. Wahrscheinlich ist sie auch noch viel zu niedrig. Das betonen Epidemiologen schon seit Beginn der Epidemie.

Der Epidemiologe Gérard Krause.
Der Epidemiologe Gérard Krause.

© HZI

Denn damit Menschen als krank erfasst werden, muss das Virus erst einmal Symptome verursachen, die Menschen letztendlich dazu bringen, sich bei einem Arzt vorzustellen, der sie dann auf das Virus testen kann.

Es wird allerdings immer klarer, dass 2019-nCoV in vielen Fällen nur leichte Beschwerden verursacht, etwa Halsschmerzen oder ein leichtes Krankheitsgefühl ohne Fieber. Menschen mit solchen Symptomen dürften es oft nicht für nötig halten, sich behandeln zu lassen. Damit tauchen sie in keiner Statistik auf.

Bei der "Schweinegrippe" überschätzte man zuerst die Gefahr

Zudem befinden sich viele Menschen noch in Behandlung – ohne dass man weiß, ob sie wieder gesund werden oder nicht. Und schließlich ist auch unklar, wie sich die rigiden Quarantänemaßnahmen in China auf den Verlauf der Epidemie auswirken werden.

"Derzeit haben wir noch nicht einmal ein Gefühl dafür, wie unsicher wir uns bei der Sterblichkeit durch das Virus sind", sagte der Epidemiologe Marc Lipsitch von der Harvard School of Public Health dem Tagesspiegel.

Viele Experten gehen davon aus, dass die case fatality rate von zwei Prozent sich beim aktuellen Ausbruch noch deutlich verringern dürfte, wenn im Verlauf mehr Fälle registriert und veröffentlicht werden. So war es auch bei der Pandemie mit dem Influenzavirus H1N1 im Jahr 2009, der sogenannten Schweinegrippe. 

Damals ließen die ersten Meldungen aus Mexiko auf eine extrem hohe Sterblichkeit von etwa sieben Prozent schließen. Schließlich stellte sich aber heraus, dass nur etwa 0,1 Prozent der als infiziert Bekannten starben. "Nach vier Monaten hatten wir damals genug Daten für eine gute Schätzung", sagt Lipsitch.

Falls das neue Coronavirus zu einer höheren case fatality rate führe – wie es derzeit aussehe – könne es auch schneller gehen, bis man das absehen könne, meint Lipsitch.

"Es bleiben eben Schätzungen auf Basis von Annahmen"

Mit Hilfe von Computersimulationen versuchen Forscher abzuschätzen, wie viele Menschen sich wirklich mit dem Virus angesteckt haben könnten. Ein Team um Gabriel Leung von der Universität Hongkong kommt in einer solchen Simulation etwa auf eine Zahl von 75.815 Menschen, die sich bereits bis zum 25. Januar allein in der Millionenstadt Wuhan infiziert haben könnten.

Als Basis nahmen die Forscher die zu diesem Zeitpunkt noch recht geringe Zahl der Infektionsfälle außerhalb Chinas und verknüpften sie mit Zahlen zu Fluggastbewegungen vom Flughafen Wuhan und Daten des chinesischen Internetanbieters Tencent. 

Leung schätzt, dass die Zahl der Infizierten in chinesischen Großstädten in den nächsten Wochen stark ansteigen könnte und dann erst im Mai oder Juni ihren Höhepunkt erreichen könnte. Aber damit kann er auch falsch liegen. Zum Beispiel, weil sich seit dem Ausbruch die Mobilität der Bevölkerung deutlich verändert hat – die Zahl der Reisebewegungen ist stark zurückgegangen.

"Es bleiben eben Schätzungen auf Basis von Annahmen", sagt Gérard Krause vom HZI. "Und die Daten, auf denen die Annahmen beruhen, sind einfach immer noch sehr grob und lückenhaft." Ob man auf dem Höhepunkt der Epidemie angekommen sei, wisse man erst, "wenn der Gipfel erreicht ist, wir oben stehen und auf der anderen Seite runterschauen können", so Krause. Bei einer Epidemie mit einem bislang unbekannten Erreger sei das sogar noch schwieriger.

Breitet sich das Virus längst unbemerkt aus?

Eine wichtige Frage ist auch, wie stark Menschen das Virus von China aus in andere Regionen der Welt tragen. Während in China die Fallzahl kontinuierlich wächst, ist der Rest der Welt bisher deutlich weniger stark betroffen. Auch in Deutschland sind bislang 14 Fälle gemeldet. Alle gehen darauf zurück, dass eine Chinesin bei einer Geschäftsreise offenbar einen Mitarbeiter eines deutschen Autozulieferers angesteckt hat.

Mancher Experte wundert sich nun, ob das wirklich alle Fälle sind oder ob sich das Virus schon längst unbemerkt ausbreitet.

In einer Studie, die allerdings noch nicht von anderen Wissenschaftlern begutachtet wurde, berechnet eine Gruppe um Marc Lipsitch und seinem Harvard-Kollegen Pablo Salazar Länder und Orte, in die mit 2019-nCoV Infizierte gereist sein könnten, ohne dass ihre Ansteckung bekannt war.

Vor allem geht es dabei um Indonesien und Thailand, die bisher deutlich weniger Fälle gemeldet hätten als erwartet, wie die Forscher schreiben. Das könne darauf hindeuten, dass eine unbekannte Anzahl an Fällen einfach nicht festgestellt und gezählt wird.

"Das wäre ein Problem, weil diese Menschen das Virus weiter verbreiten könnten", sagte Lipsitch. Und diese Infizierten wären dann noch schwerer aufzuspüren, weil die Verbindung zu einer Person, die ursprünglich in Wuhan war, immer weiter entfernt ist. "Wenn diese Übertragungsketten bestehen bleiben, würde es deutlich schwieriger werden, das Virus einzudämmen", so Lipsitch.

"So kann man eigentlich nicht arbeiten"

"Die Sorge, dass sich das Virus unbemerkt ausbreitet, haben wir alle", sagt Krause. Zumal eben viele Infizierte offenbar keine Symptome verspürten. Was die Bedeutung von Lipsitchs Arbeit betrifft, ist er aber eher skeptisch: "Es handelt sich ja letztlich nur um eine Verwertung der Flugaktivität aus der Vergangenheit." Aber eben diese habe sich ja geändert und werde es weiter tun.

Wichtiger sei, dass jedes Land genug tut, um ausreichend Kapazitäten für Früherkennung, Diagnostik und Eindämmung eines möglichen Ausbruchs bereitzustellen. Das sei in Deutschland natürlich eher möglich als etwa in vielen afrikanischen Staaten.

Sorgen macht Krause sich aber auch, weil die Daten aus China nach wie vor ungenau sind. Es fehlen Angaben, wann Menschen erkrankt sind, wann die Diagnose war, wie die Krankheit verlief. "Darum fällt es uns so schwer, diese Epidemie richtig einzuschätzen", sagt er. Und: "So kann man eigentlich nicht arbeiten."

Ob sich daran etwas ändert, weiß niemand. Krause hofft eher darauf, dass andere Staaten importierte Infektionen schnell erkennen und die Daten dann aufbereiten und veröffentlichen – damit die Welt besser beurteilen kann, was dieser Ausbruch noch bringen könnte.

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