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denken und gestalten. Ausgebaut wurde das jüdische Schulwesen nach 1989, mit dem Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Bild: David Lau, Oberrabbiner Israels, bei einer Erinnerungsfeier an die Reichspogromnacht in Berlins Jüdischer Traditionsschule.

© Maurizio Gambarini/pa/dpa

Erziehung: Schulen für ein lebendiges Judentum in Deutschland

Jüdische Schulen in Deutschland bereiten auf ein selbstbewusstes Leben vor. Dabei ringen sie mit dem Begriff der Identität. Ein Gastbeitrag.

Dreizehn jüdische Schulen gibt es im Jahr 2018 in Deutschland: vier Grundschulen und eine Oberschule in Berlin, je eine Grundschule und ein Gymnasium in Düsseldorf und München sowie Grundschulen in Hamburg, Köln und Stuttgart, außerdem die I.E. Lichtigfeld-Schule in Frankfurt, die bis zur 9. Klasse führt und aktuell zum Gymnasium ausgebaut wird. Jede Schulgründung, die erste davon in Frankfurt am Main 1966, wurde begleitet von Erwartungen, Ansprüchen, Hoffnungen.

Von Erwartungen, einen geschützten Raum vorzufinden, in dem die jüdische Identität der Kinder gestärkt würde. Von dem Anspruch, dass jüdische Schulen ein Ausdruck dafür seien, dass Deutschland die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit nicht scheut, sondern erfolgreich bewältigt. Und schließlich von Hoffnungen, dass all diese Bemühungen fruchten mögen und jüdisches Leben in Deutschland wieder eine Zukunft habe.

Frankfurt als Vorreiter

Dass Erziehung etwas mit Zukunft zu tun hat, davon war man bereits in der Vergangenheit überzeugt. In einem Brief an die Berliner Gemeindevorsteher schrieb der renommierte jüdische Wissenschaftler, Redakteur und Schuldirektor Leopold Zunz 1823: „Die Erziehungsfrage ist heutzutage die entscheidende Frage. Von ihrer Lösung hängt unsere ganze Zukunft ab – im Guten und im Schlechten.“ Erziehung und Bildung, so zeigte sich auch der einstige Oberrabbiner des Vereinten Königreichs, Sir Jonathan Sacks, im ausgehenden 20. Jahrhundert überzeugt, bedeutet für Juden nicht lediglich, was sie wissen und wie sie lernen, sondern schlicht, wer sie sind.

Es war eben diese Überzeugung, dass von der jüdischen Erziehung und Bildung alles abhinge, wobei „alles“ das Überleben der Juden „als Juden“ bedeutete, die jede Schuleröffnungsfeier im Nachkriegsdeutschland begleitete.

Frankfurt, das bereits 21 Jahre nach der Auslöschung jüdischen Lebens eine jüdische Schule neu gründete, blieb lange Zeit solitär. Mit Ausnahme der Sinai-Grundschule in München (1976) und der Jüdischen Grundschule in Berlin (1986), die später den Namen Heinz Galinskis tragen sollte, wurden alle jüdischen Schulen in Deutschland nach der Wiedervereinigung eröffnet. Wiedervereinigung, das hieß auch Zuzug Tausender russischsprachiger Jüdinnen und Juden in die alten und neuen Bundesländer. Durch sie entstand eine kritische Masse an jüdischen Schülerinnen und Schülern, die die Gründung derartiger Einrichtungen sinnvoll und realisierbar erscheinen ließ.

Mehr als ein Drittel nichtjüdische Schüler

Doch setzt sich ihre Schülerschaft keinesfalls nur aus jüdischen Kindern, geschweige denn solchen mit russischsprachigem Hintergrund zusammen. Vielmehr repräsentiert sie ein buntes Gemisch an religiösen oder atheistischen Überzeugungen, Muttersprachen und Vaterländern. Am Berliner Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn lernen derzeit etwa 450 Schülerinnen und Schüler, von denen 60 bis 65 Prozent jüdische Teenager sind. Die anderen 35 bis 40 Prozent sind nichtjüdisch.

Will man die Erwartungen, Ansprüche und Hoffnungen an das jüdische Schulwesen in Deutschland einem „reality check“ unterziehen, stößt man auf eine grundlegende definitorische und methodische Schwierigkeit. Denn der zentrale und so populäre Begriff der „jüdischen Identität“ bleibt konturlos. Aus der Sicht von Soziologen wandelt sich in einer sich rasant verändernden Welt das Selbstkonzept eines Menschen ebenso schnell.

Identität gilt heute grundsätzlich als fluide, hybrid und facettenreich. Das gilt auch für die Vorstellungen darüber, wer Jude oder Jüdin beziehungsweise was unter jüdisch zu verstehen sei – und zwar gleichermaßen bei Juden wie Nichtjuden. Der Rekurs auf die jüdische Identität ist daher der Versuch, der Erosion einer kohärenten Idee von und Identifikation mit den Juden als Gruppe entgegenzuwirken.

Erste Untersuchungen zu den Wirkungen einer jüdischen Schulbildung auf die Identitätsentwicklung legten Forscher aus Nordamerika zu Beginn der sechziger Jahre vor. Der überwiegende Teil fragte nach bestimmten Verhaltensweisen und Praktiken, die als Indikatoren für eine jüdische Identität galten, wie das Einhalten der jüdischen Speisegesetze und der Ruhegebote zu Schabbat oder die Spendenbereitschaft für jüdische Organisationen. Mittlerweile wird der Sinn solcher Checklisten kritisiert, da das komplexe Thema Identität mit quantitativen Untersuchungen nicht abzustecken sei.

Weiterhin "Jüdische Identität" als zentrale Zielbestimmung?

Inwieweit sich der Begriff jüdische Identität noch zur Zielbestimmung jüdischer Bildung eignet, ist also zumindest fraglich. In Deutschland lohnt ein genauer Blick auf die Arbeit der 1993 gegründeten Jüdischen Oberschule, die bis 2016 die einzige jüdische Schule in Deutschland war, die bis zum Abitur führte. Wie hat die Zeit an dieser Schule die Identität der Kinder und Jugendlichen beeinflusst und vor welchen Herausforderungen steht die Schule und ihr Bildungskonzept im 21. Jahrhundert?

Die Jüdische Oberschule unterscheidet sich von anderen weiterführenden Schulen durch ihr spezifisch jüdisches Profil, das einerseits durch die zusätzlichen Fächer Jüdische Religion, Bibel und Hebräisch zum Tragen kommt und sich andererseits in der Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und Israels spiegelt. Es sind die Themen Judentum (als Religion und Kultur), Nationalsozialismus und Israel, die den inhaltlichen Bezugsrahmen bilden.

Eingebettet in den jüdischen Jahreszyklus lernen die Jugendlichen den Fest- und Feiertagskalender kennen und begehen die Trauertage wie Jom HaSchoa. Gleichzeitig werden sie mit der praktischen Ausführung der Feste vertraut gemacht. Sie lesen die Bibel und lernen Segenssprüche. Sie setzen sich mit deutsch-jüdischer Geschichte auseinander, üben Iwrit, das Neuhebräische, studieren Israels Politik und Geografie und fahren auf Klassenfahrt nach Haifa. Es sind somit vor allem die Inhalte, die das Jüdische Gymnasium jüdisch machen. Die Schule ist jüdisch durch das, was sie sagt und durch die Art, wie sie es sagt.

Bei den Schülerinnen und Schülern bestehen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob die Teilnahme am Morgengebet verpflichtend sein sollte oder ob die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Schoah – durch Gedenkstättenfahrten und Gedenkveranstaltungen, Zeitzeugengespräche und die künstlerische Beschäftigung mit dem Thema – in dieser Intensität notwendig ist.

Für Kinder von Zuwanderern erlangt die Schoah oftmals nicht die gleiche Bedeutsamkeit wie für jüdische Schülerinnen und Schüler mit deutschen Wurzeln, deren Verwandte von Ausgrenzung, Verfolgung, Exil und Vernichtung betroffen waren. Nichtjüdische Schülerinnen und Schüler begegnen dem Thema wiederum anders, als es bei Kindern aus gemischten jüdisch-nichtjüdischen Familien der Fall ist. Doch führt das intensive Lernen über die Jahre 1933 bis 1945 dazu, eine Bildungsgemeinschaft zu begründen, deren Mannschaften sich im kommunikativen Tauziehen um den zentralen Gegenstand Judentum einig wissen.

Zugehörigkeitsgefühl

Weil das Jüdische Gymnasium keine religiöse Schule ist, sondern eine allgemeinbildende weiterführende Schule, die prinzipiell Schülern aller Ausrichtungen offensteht, kann sie keine Observanz einfordern, sondern lediglich Möglichkeiten aufzeigen. In erster Linie also findet Erziehung über das Judentum statt, nicht zum Judentum. Dennoch wird die Grundlage geschaffen für das, was Michael Daxner eine „positive Intention“ nennt oder mit den Worten des großen deutschen Rabbiners Leo Baeck: „Der Wille und die Überzeugung dem Judentum zuzugehören, …“.

Das gilt für die russischsprachigen Kinder ebenso wie für diejenigen, die lediglich auf eine jüdische Großmutter oder einen jüdischen Großvater zurückgreifen können. Ihnen allen gemeinsam ist das unverbrüchliche Bekenntnis zum Judentum, ohne sich dadurch zur Einhaltung der Religionsgebote verpflichtet zu fühlen. Dieses Zugehörigkeitsgefühl wird auch vehement verteidigt, sollte es außerhalb der Schule von halachischen Autoritäten infrage gestellt werden und es führt bei nichtjüdischen Schülerinnen und Schülern im Falle antisemitischer Angriffe zur Solidarisierung mit ihren jüdischen Peers – und dem Judentum schlechthin.

Was nun sind die Herausforderungen für die jüdische Schule des 21. Jahrhunderts in Deutschland? Alle für jüdische Erziehung und Bildung Verantwortlichen sollten eine offene Diskussion darüber führen, welche Inhalte und welche Werte sie der heranwachsenden Generation vermitteln wollen. Das betrifft alle Themen, begonnen bei jüdischer Kultur, Traditionen und der Religionsausübung über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart bis hin zur Beschäftigung mit dem Verhältnis zum Staat Israel.

Jüdisches Leben nach der Schule

Gleichzeitig muss die jüdische Bildung auf ein jüdisches Leben nach der Schule hinwirken. Schließlich geht es gerade darum, wieder lebendiges Judentum in Deutschland entstehen zu lassen. Gelebtes Judentum wird verkörpert von Menschen, die nicht nur zufällig Juden sind, sondern die sich jüdisch verstehen und die jüdisch sein wollen. Sie müssen sich auskennen in ihren Traditionen, sich zu diesen Traditionen in Beziehung setzen und sie mit Leben, ihrem Leben füllen. Das erfordert Mut und Selbstvertrauen – von den Schulen, ihrer Schüler- und ihrer Elternschaft.

Die Autorin ist Koordinatorin des Zacharias Frankel College für die Ausbildung von Masorti Rabbinerinnen und Rabbinern in Berlin. Zuvor war sie Bildungsreferentin und Leiterin der Kulturabteilung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die Erziehungswissenschaftlerin untersuchte in ihrer 2017 veröffentlichten Promotion die Bedeutung der jüdischen Schulbildung. Ihr Artikel basiert auf einem Beitrag zum soeben erschienenen Sammelband „Weil ich hier leben will …“ (hrsg. von Walter Homolka, Jonas Fegert und Jo Frank) zum Jüdischen Zukunftskongress in Berlin (s.u.).

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Jüdischer Zukunftskongress

Der neuen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland ist der Jüdische Zukunftskongress vom 5. bis 8. November in Berlin gewidmet. Eröffnet wird der von der Leo Baeck-Foundation in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Kultur und der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltete Kongress am Montag, 5. November, im Centrum Judaicum. Einige Highlights aus dem umfangreichen öffentlichen Programm: Am Dienstag, 6. November, wird im Selma Stern-Zentrum für Jüdische Studien zum Thema „Jüdischer sozialer Aktivismus, Erinnerung, Politik“ und über Bezüge zwischen der Évian-Konferenz von 1938 und der heutigen „Festung Europa“ diskutiert. Um den jüdisch-muslimischen Dialog geht es in der Akademie des Jüdischen Museums. Am Mittwochabend folgt in der Kreuzberger Fahimi-Bar auf eine Diskussion über die Club-Kultur zwischen Russendisko und Berghain ein DJ-Set mit Yuri Gurzhy. Weitere Infos und Anmeldung unter: www.juedischer-zukunftskongress.org.

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