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Judenverfolgung: „Von Tyrannen zu Unrecht verbrannt“

1510 wurden in Berlin 38 Juden zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Die Überlebenden der Gemeinde wurden enteignet und mussten das Land verlassen. 30 Jahre später wurden die Opfer rehabilitiert.

Als „Verhängnis der Mark Brandenburg“ (ha’zarah be’medinat mark) hat ein jüdischer Zeitgenosse die Ereignisse bezeichnet, die vor 500 Jahren zahlreiche angesehene Bürger zu verhassten Außenseitern werden ließen. 38 märkische Juden urteilte man am 19. Juli 1510 in Berlin öffentlich ab und verbrannte sie, während man die übrigen enteignete und des Landes verwies. Sie waren der Gotteslästerung und des Kindsmords für schuldig befunden worden. Wie sich dreißig Jahre später zeigte, war dies auch für damalige Rechtsverhältnisse ein Unrechtsurteil.

Juden hatten die Mark Brandenburg mit aufgebaut. Der früheste nachweisliche jüdische Grabstein verweist ins Jahr 1244, in dem Berlin zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird. Sie lebten in einem heiklen Gleichgewicht aus Duldung und Verfolgung, das in bewegten Zeiten schnell in Schieflage geriet. Begründet war dies auch durch Glaubensfragen: Die Juden waren nicht bereit anzuerkennen, dass ihre Religion an den einen und einzigen Gott im christlichen Glauben aufgegangen sein sollte. Ihre Bekehrung war nach Meinung der damaligen Theologen die Voraussetzung für die zweite Wiederkunft Christi und damit für die Erlösung der Welt. Deswegen gestand man ihnen ein Lebensrecht zu. Doch weil die Juden diese „halsstarrig“ verweigerten, versuchte die Kirche, ihre soziale und wirtschaftliche Stellung ständig herabzusetzen und einzuengen.

Am 23. Dezember 1509 hatten die Brandenburger Juden vom jungen Kurfürsten Joachim I. ein neues „Privileg“ erhalten, das ihre Anwesenheit zu allseitiger Zufriedenheit zu regeln schien: Dafür, dass sie sich verpflichteten, dem Kurfürsten ein Drittel der Brandenburger Staatsausgaben zu bezahlen, gestand er ihnen das Recht auf ein eigenständiges Leben in der Mark zu. Doch waren sie damit voll und ganz vom Wohlwollen des Kurfürsten abhängig. Denn die anderen politischen Gruppen des Landes bekamen von ihren Steuerleistungen nichts und waren ohnehin judenfeindlich – die Geistlichkeit aus religiösen Gründen, der Adel, weil er mit ihrer Vertreibung seine Schulden loswerden wollte, und die städtischen, in Zünften organisierten Bürger, weil sie Juden als Kleinkreditgeber für sämtliche wirtschaftlichen Probleme des Landes haftbar machten. Und so konnte ein unbedeutender Diebstahl in einer abgelegenen Dorfkirche, derart arm, dass sie statt kostbarer Reliquien mit zwei geweihten Hostien vorliebnehmen musste, eine Katastrophe auslösen.

Was Juden betraf, wurde das europäische Mittelalter von zwei Wahnvorstellungen beherrscht: Die eine, sehr alte, betraf die Beziehung von Juden und Christenblut, den Verdacht, dass Juden insgeheim Christenkinder schlachteten. Die andere, damit verwandt, aber deutlich jünger, war die Überzeugung, dass Juden als vermeintliche Gottesmörder eine zwanghafte Neigung hätten, sich geweihte Hostien – für Christen den Leib Christi – zu beschaffen, um dieselben zu quälen und zu martern. Wobei die Hostien, wunderbarerweise, zwar zu bluten begannen, aber sonst unversehrt blieben. Das hatte viel mit der innerchristlichen Suche nach dem theologischen Stellenwert des Abendmahls, der Beziehung vom „Kelch“ (Blut) und „Hostie“ (Leib und Blut) zu tun, aber nichts mit jüdischem Brauchtum oder Religion. Doch da das damalige Recht den Einsatz der Folter vorsah, bis ein „freiwilliges“ Geständnis vorlag, pflegte ein Präzedenzfall den nächsten nach sich zu ziehen.

So war es auch 1510. Ein möglicher jüdischer Abnehmer für die vom christlichen Dieb gestohlene Hostie ist bald gefunden, sein Geständnis bereits am nächsten Tag mithilfe des Henkers erzwungen. Und schon wird zur Verhaftung aller männlichen Brandenburger Juden geschritten. Frauen und Kinder, immerhin, bleiben verschont. Da man dennoch nur 36 wegen vermeintlicher Hostienschändung anzuklagen vermag, wird die Beschuldigung kurzerhand um den Punkt „Kindesmord zwecks Christenblutgewinnung“ erweitert. Dabei geht man von anonymen Kindern aus, die unbekannten Durchreisenden abgekauft worden sein sollten.

Nun werden 51 Juden beschuldigt, darunter die wichtigsten Steuerzahler, deren Vermögen der Staatskasse verfällt und von denen bei Prozessbeginn, drei Wochen später, noch 41 am Leben sind. Drei lassen sich taufen und erhalten mildere Strafen – zwei von ihnen werden geköpft, der dritte, ein bekannter Augenarzt, diskret begnadigt. Die anderen 38 werden, wie der christliche Kirchendieb, zum Feuertod verurteilt.

Doch während den Einbrecher der gewöhnliche Scheiterhaufen erwartet, hat der Scharfrichter den Juden „einen wunderlichen bau zu ihrer straff / hinter dem Rabenstein dem heutigen Strausberger Platz] zugerichtet / ein hoch Tabernackel“, einen dreistöckigen Scheiterhaufen mit schrägen Pfählen. Dem Henker gingen dabei viele Berliner gerne und freiwillig zur Hand. Der Begriff „Tabernakel“ ist vom mosaischen „Stiftszelt“ ableitet, in dem sich der Altar für das Ganzopfer befand, für den „Holocaust“.

Die verurteilten Juden haben, wie wir aus Augenzeugenberichten wissen, gemeinsam laut gebetet (ihr „Amen“ wurde auch von den Christen verstanden) und „mit großer bestendigkeyt den todt gelitten, den pawvelligen Christenn zcu sundern erschrecken“. Die übrigen Brandenburger Juden werden enteignet und aus dem Land gewiesen, wobei sie der Kurfürst vor Übergriffen schützen lässt. Ihre Friedhöfe ebnet man ein, und die im Lauf der Jahrhunderte angesammelten Grabsteine benutzt man zum Aufbau der Zitadelle Spandau, in deren Gemäuer man sie Jahrhunderte später wiederfindet.

Was diesen Prozess von den vielen anderen der Zeit unterscheidet, ist sein Nachspiel. Fast 30 Jahre später, die Glaubensspaltung hatte eingesetzt, versuchte Josel von Rosheim, der Sachwalter oder wie er sich nannte, „Regierer“ der deutschen Judenheit 1539 auf dem „Fürstentag“ in Frankfurt am Main die Interessen der deutschen Juden wahrzunehmen. Als Mann der Renaissance, als frommer Jude, der auch Lateinisch kann, manövriert er mit großem politischen Geschick zwischen den zwei immer feindlicheren Machtblöcken, von denen keiner den Juden besonders gut gesonnen ist.

Was im April 1539 in Frankfurt geschah, hat Josel als so großes Wunder empfunden, dass er es in einer in Hebräisch und Deutsch herausgegebenen „Trostschrift an seine Brüder“ festhielt: Dass nämlich „durch den hochgelerten Dr. Phillippum Melancton“ (der rechten Hand Luthers) in Anwesenheit des neuen Kurfürsten von Brandenburg, Joachim II., öffentlich gemacht wurde, „wie von tyrannen die armen juden bei seines vatern seligen leben zu unrecht verbrannt worden“.

Der Priester, der die letzte Beichte des christlichen Kirchendiebs abnahm, hatte vom Dieb erfahren, dass es den vermeintlichen jüdischen Hostienkäufer gar nicht gab, und daraufhin versucht, die anstehende Hinrichtung der Juden zu verhindern. Der Brandenburger Bischof verpflichtete ihn jedoch zum Stillschweigen, woran er sich hielt, bis er im Zuge der Reformation protestantischer Pastor wurde und nach Süddeutschland zog.

Josel von Rosheim nutzt die Betroffenheit des jungen Kurfürsten, um die Wiederzulassung der Juden in Brandenburg zu erreichen. Und er nutzt die Betroffenheit beider Lager, der Katholiken wie der Protestanten, um die Stellung der Juden in Deutschland insgesamt zu verbessern. Während sie im übrigen West- und Mitteleuropa so gut wie überall vertrieben wurden, erhalten sie in Deutschland den Status des „concives“, des „Mitbürgers“ und damit ein Bleiberecht, das fast vierhundert Jahre lang Bestand haben wird. Der Begriff „Mitbürger“ prägt die Beziehung der Deutschen zu unter ihnen wohnenden Fremden bis heute.

Der Autor ist Initiator der Ausstellung „Das Verhängnis der Mark Brandenburg“ in der Zitadelle Spandau (bis 30. Januar 2011; Am Juliusturm 64; Mo. bis Fr. 10 bis 17 Uhr), Verfasser der Rororo-Monografie über Moses Mendelssohn und der DTV-Biografie des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer.

Stephen Tree

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