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Ältere, aber auch Vorerkrankte, Schwangere sowie Kleinkinder sind von Hitze besonders betroffen.

© imago images / snapshot

„Jahrhundertsommer“ kostete Tausende das Leben: Wie Hitzetote von der Politik ignoriert werden

Hunderte Menschen sterben jedes Jahr infolge der Hitze. Das Problem wird sich verschärfen, doch die Behörden sind nicht darauf vorbereitet.

Hitze tötet – kein Ereignis macht das deutlicher als die Hitzewelle im August 2003. In zwölf betroffenen europäischen Ländern starben insgesamt etwa 70.000 Menschen infolge der Hitze, wie Forschende in einer Lancet-Studie berichteten. Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) kamen in Deutschland in diesem „Jahrhundertsommer“, 9600 Menschen ums Leben. Es sind Schätzungen, weil es in Deutschland kein bundesweites Überwachungssystem gibt, das hitzebedingte Sterbefälle erfasst.

In Frankreich wurden im selben Jahr 15.000 hitzebedingte Todesfälle verzeichnet. Der Höhepunkt der Sterblichkeit war in Frankreich sogar höher als in der ersten Coronawelle, wie aus Daten der französischen Statistikbehörde hervorgeht. Der Sommer 2003 gehört zu den tödlichsten Naturkatastrophen der vergangenen 100 Jahre in Europa.

Seither beobachten Hitzeforscher:innen das Phänomen in jedem Sommer, berichtet „Die Zeit“. Im Sommer 2018 starben in Berlin etwa 490 Menschen aufgrund von Hitzeeinwirkungen, schätzt das RKI. Aktuellere Zahlen gibt es nicht. 2018 starben laut Berechnungen der Zeit bis zu 2000 Menschen mehr an Hitze als im ganzen Jahr im Straßenverkehr. Während Vorschriften die Zahl der Verkehrstoten gesenkt hätten, fehlten solche Regeln im Umgang mit der Hitze.  

Hitzetod ist keine Diagnose

Das könnte auch daran liegen, dass „Hitzetod“ keine genormte Diagnose ist. Offiziell stirbt niemand an „Hitze“, so wie Raucher:innen nicht an Zigaretten sterben, sondern an durch Rauchen verursachtem Lungenkrebs. Es ist „Hitzestress“, der vor allem ältere Menschen betrifft, sagt die Ärztin Nathalie Nidens, die bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit in Berlin im Bereich Hitzeschutz tätig ist. Das Kreislaufsystem älterer Menschen sei nicht mehr so leistungsfähig und sie verspürten auch ein geringeres Durstgefühl. Hinzu kommt: Viele Ältere haben niemanden, der ihnen bei Hitze helfen könnte.

Von der tödlichen Gefahr der Hitze sind aber auch Vorerkrankte, Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder sowie wohnungslosen Menschen betroffen. „Die Gefährdung steigt, wenn die 30-Grad-Schwelle an mehreren Tagen hintereinander überschritten wird und Hitzewellen das Wetter bestimmen“, sagte Physiologe Hanns-Christian Gunga gegenüber dem Tagesspiegel. Abkühlung bleibt dann auch nachts aus. Häufig komme es dann zu tropischen Nächten mit 20 Grad und mehr.

Die Bandbreite der gesundheitlichen Auswirkungen von Hitze ist groß. Sie reicht laut Nidens von Schwindel und Erschöpfung bis zu Schwellungen an Füßen und im Extremfall auch bis zum Tod. In starken Hitzeperioden steigt auch das Risiko für Herzinfarkte oder Nierenschäden – das viele Schwitzen und die oftmals zu niedrige Wasser- und Elektrolytzufuhr führen dazu.

Wegen Klimawandel mehr Hitzetage erwartet

Das Problem wird sich vermutlich verschlimmern, nicht nur, weil es künftig wegen dem Klimawandel mehr Hitzetage geben wird, sondern auch, weil die Deutschen immer älter werden, wie die Zeit zusammenfasst. Die Bundesregierung rechne bis zum Ende des Jahrhunderts jährlich mit bis zu 8500 zusätzlichen hitzebedingten Todesfällen. Das Umweltbundesamt prognostiziert für Deutschland, „dass zukünftig mit einem Anstieg hitzebedingter Mortalität von einem bis sechs Prozent pro Grad Celsius Temperaturanstieg zu rechnen ist. Dies entspräche über 5000 zusätzlichen Sterbefällen pro Jahr durch Hitze bereits bis Mitte dieses Jahrhunderts“.

2017, also 14 Jahre nach dem „Jahrhundertsommer“, legten das Bundesumweltministerium und die Länder „Handlungsempfehlungen für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit“ vor. Darin heißt es unter anderem, dass auf Landesebene jeweils eine zentrale Koordinierungsstelle die Kommunen und Landkreise beim Erstellen von Hitzeschutzplänen unterstützen solle. Alle Behörden und Rettungsdienste, Krankenhäuser und Pflegeheime sowie Kindergärten und Schulen sollten das Warnsystem des Deutschen Wetterdienstes vor Hitze nutzen. Außerdem sollten Ablaufpläne erstellt werden, wie die Bevölkerung gewarnt wird.

Handlungsempfehlungen werden kaum eingehalten

Wie die Zeit-Recherche zeigt: Die Handlungsempfehlungen werden kaum eingehalten. Befragt wurden alle Bundesländer und bundesweit 400 Landkreise. Rund 80 Prozent der 299 Landkreise, die auf die Fragen der Zeit antworteten, haben kein Hitzeschutzkonzept oder Hitzeaktionspläne entwickelt. Neunzig Prozent der Verwaltungen, die geantwortet haben, konnten nicht einmal beziffern, wie viele Menschen in ihrer Region an extrem heißen Tagen in Gefahr geraten. Außer Nordrhein-Westfalen hat bislang kein Land eine zentrale Koordinierungsstelle eingerichtet, wie es 2017 verabredet worden war.

Fast jeder fünfte Kreis räumte auf die Frage der Zeit ein, die Hitzewarnungen des DWD nicht zu beziehen. Und lediglich Nordrhein-Westfalen hatte für 2018 berechnet, dass „6,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner einer ungünstigen bis sehr ungünstigen thermischen Belastung (Hitze) ausgesetzt waren“. Alle anderen Länder antworteten, solche Daten würden nicht erhoben.

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