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Es braucht eine riesige Falle, um winzige Teilchen dunkler Materie einzufangen. Das "Xenon 1T-Experiment", bei dem sich Wimp-Teilchen in einem Tank mit 3,5 Tonnen Xenon per Lichtblitz zu erkennen geben sollen, wurde 2015 im Gran-Sasso-Tunnel eingeweiht.

© INFN-LNGS

Jagd nach dunkler Materie: Warten auf den Wimp-Einschlag

Tief in einem Gebirgsmassiv Italiens jagen Forscher das „WIMP“-Teilchen. Es wäre ein Beweis für die Existenz dunkler Materie. Es muss sich nur zeigen.

„Panta rhei“ – so soll der griechische Philosoph Heraklit das Weltgeschehen beschrieben haben. „Alles fließt.“ Mehr als zwei Jahrtausende später lieferte der englische Naturwissenschaftler Isaac Newton eine andere Beschreibung: Alles fällt.

Im Bann ihrer gegenseitigen Anziehungskräfte fallen alle Körper im Kosmos aufeinander zu und umeinander herum auf Bahnen und mit Geschwindigkeiten, die mithilfe seines Gravitationsgesetzes präzise berechnet werden können.

1922 erkannte der holländische Astronom Jacobus Kapteyn allerdings, dass die Bewegungen der vielen Milliarden Sterne in der Milchstraße nicht so richtig zu ihren Gravitationskräften passen. Alle Sterne der Milchstraße driften in einer gemeinsamen Drehrichtung um ihre Mitte herum.

Die Sonne weit innerhalb der Milchstraße vollführt ihre Rundbahn mit einer Geschwindigkeit von rund 800 000 Kilometer pro Stunde. Wie Kapteyn bemerkte, rasen die Sterne in den Außenbezirken der Milchstraße aber ähnlich schnell herum. Die Gravitation der gesamten sichtbaren Materie allein – Sterne, Gaswolken, Staubnebel – wäre jedoch viel zu schwach, um die schnellen Sterne auch dort draußen am Rand der Milchstraße noch auf ihren Bahnen halten zu können.

Viel mehr dunkle als normale Materie im Universum

Kapteyns Ahnung: Die Milchstraße wird gefüllt und umhüllt von unsichtbarer „dark matter“. Erst die Gravitation dieser „dunklen Materie“ verhindert, dass die rasenden Sterne aus unserer Heimatgalaxis hinausgeschleudert werden wie Wassertropfen aus einem Rasensprenger.

Rund 10 Jahre später stieß der aus der Schweiz stammende Astronom Fritz Zwicky weit außerhalb der Milchstraße in einem etwa 300 Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen auf ein ähnliches Missverhältnis zwischen Gravitation und sichtbarer Materie. Die einzelnen Galaxien des Haufens bewegen sich sehr schnell.

Mit ihren hohen Geschwindigkeiten hätten sie deshalb der Gravitation der sichtbaren Haufenmaterie schon längst entkommen und sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen müssen. Also musste der ganze Galaxienhaufen von einer zusätzlichen unsichtbaren Gravitationsquelle zusammengehalten werden.

Zwicky sah voraus: „Falls sich dies bewahrheiten sollte, würde sich also das überraschende Resultat ergeben, dass dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie.“

Unsichtbar, aber Spuren hinterlässt dunkle Materie dennoch

Erst 40 Jahre später erkannten die Astronomen allmählich, wie hellsichtig Kapteyns und Zwickys Idee einer „dunklen Materie“ war. Denn dank stetig verbesserter Beobachtungstechnik stießen sie auf immer mehr Gravitationsspuren, die der mysteriöse Stoff im Getriebe des Kosmos hinterlässt.

Manchen Galaxienhaufen sieht man es sogar direkt an, dass sie außer der sichtbaren Materie auch sehr viel dunkle Materie enthalten müssen. Denn laut der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein verbiegt Materie die Geometrie aus Raum und Zeit in ihrer Umgebung. Auch Lichtstrahlen fliegen entlang der Raum-Zeit-Krümmung und werden durch sie abgelenkt.

Dadurch verwandeln sich Galaxienhaufen mit ihrer hohen Materiedichte in optische „Gravitationslinsen“: Sie verzerren und vergrößern hinter ihnen leuchtende Himmelsobjekte. Auf manchen Himmelsfotografien ist dieser optische Effekt der Raum-Zeit-Krümmung viel zu groß, um ihn allein auf die sichtbare Materie in dem abgebildeten Galaxienhaufen zurückführen zu können. Auch hier muss die Gravitation dunkler Materie ihre Finger im Spiel haben.

Falls auch im letzten Winkel des Kosmos noch die gleichen Gesetze der Gravitation gelten wie in unserer kosmischen Nachbarschaft, kann man viele der Vorgänge in den Weiten des Weltalls nur mit der verblüffenden Annahme erklären: Es gibt etwa fünfmal mehr „dunkle“ als „normale“ Materie.

Aber woraus besteht sie?

Schießt ständig dunkle Materie durch uns hindurch?

Den meisten Theorien zufolge setzt sie sich zusammen aus noch unbekannten Elementarteilchen. Der Favorit unter den möglichen dunklen Kandidaten ist ein Teilchen namens „WIMP“; seinen Namen verdankt es dem Steckbrief der ihm zugeschriebenen Eigenschaften: „Weakly Interacting Massive Particle“.

Falls es die WIMPs tatsächlich geben sollte, würden sie ihrer Beschreibung als „schwach-wechselwirkende Teilchen“ alle Ehre machen: In jeder Sekunde würden Milliarden WIMPs unseren Körper durchdringen, ohne dass wir dabei etwas spüren. Und dies, obwohl sie „massiv“ sein müssten, das heißt: mindestens so massereich wie ein Wasserstoff-Atomkern, vielleicht aber auch 1000-mal schwerer.

Der Verdacht, dass die dunkle Materie tatsächlich aus WIMPs besteht, erhärtete sich noch durch das sogenannte „WIMP-Wunder“: Angenommen, in der Hitze des Urknalls wären außer den bisher bekannten Elementarteilchen tatsächlich auch massereiche WIMPs entstanden.

Dann kann man berechnen, welcher Bruchteil davon nach vielen Wechselwirkungen untereinander und nach ihren – schwachen! – Wechselwirkungen mit „normaler“ Materie übrig geblieben wäre, nachdem sich das Weltall wegen seiner Expansion abgekühlt hatte. Und siehe da: Die auf diese Weise theoretisch berechnete Menge der WIMPs, die es heute geben müsste, entspricht ziemlich genau der Menge an dunkler Materie, die sich durch ihre beobachtete Gravitation auch tatsächlich zu erkennen gibt.

Forscher, die auf Xenon starren

Kein Wunder also, dass die Jäger der dunklen Materie vor allem nach WIMPs suchen. Dazu haben sie diesen hypothetischen Teilchen schon viele Fallen gestellt. Eine der größten dieser WIMP-Fallen steht in einer Halle tief unter der Erdoberfläche neben dem Autobahntunnel durch das Gran-Sasso-Gebirge in Italien.

Die dicken Felsschichten über ihm schirmen den WIMP-Detektor vor Teilchen ab, die ununterbrochen als sogenannte kosmische Strahlung auf die Erde prasseln und unerwünschte Störsignale erzeugen würden. Etwaige WIMPs dagegen könnten ungehindert in die Falle fliegen. Sie besteht aus einem Tank voll flüssigem Xenon.

Im vergangenen Versuchsdurchlauf waren es 3,5 Tonnen Xenon, dessen Atomkerne sich den erhofften WIMPs in den Weg stellen sollten. Einer der weit über 100 Forscherinnen und Forscher, die das Experiment betreuen, ist Rafael Lang von der US-amerikanischen Purdue-Universität.

Dem Tagesspiegel erläuterte er, warum sich Xenon besonders gut zur WIMP-Jagd eignet: „Geladene Teilchen von außen können nicht weit in die Xenon-Flüssigkeit eindringen. Dank dieser Selbstabschirmung bleibt das innere Volumen des Xenons von Störstrahlung frei“, so der Forscher. „Obwohl die Xenon-Atomkerne aus durchschnittlich 130 Protonen und Neutronen bestehen, zerfallen sie nur selten und verursachen daher auch kaum eigene radioaktive Störsignale.“

Sollten aber WIMPs durch das Xenon fliegen, dann böten die großen Xenon-Atomkerne eine große Trefferfläche. Wenn dann tatsächlich ein WIMP auf ein Xenon-Atom trifft, dann gäbe es einen „superhellen“ Lichtblitz, der den Treffer direkt anzeigen würde.

Eine WIMP-Falle in einer Goldmine

Darüber hinaus würde der Treffer sogar noch ein zweites Lichtsignal erzeugen: Das WIMP würde dem getroffenen Xenon-Atom zumindest eines seiner 54 Elektronen entreißen. Dieses würde von einem angelegten elektrischen Feld nach oben in einen Topf befördert, der ebenfalls Xenon enthält, aber mit höheren Temperaturen und deshalb gasförmig.

Letzten Endes würde das befreite Elektron im Xenongas einen zweiten Lichtblitz auslösen. Und die Art der beiden Lichtsignale und ihr gemessener zeitlicher Abstand würden zweifelsfrei belegen: Jawohl, es war ein WIMP!

Im Mai 2018 gaben die Forscherinnen und Forscher das bisher frustrierende Fazit ihrer WIMP-Jagd im Gran-Sasso-Berg bekannt: In einem Zeitraum von 279 Tagen hatten sie keinen einzigen Lichtblitz registriert, der eindeutig einen Zusammenstoß zwischen einem WIMP und einem Xenon-Atom angezeigt hätte.

Nichtsdestotrotz wird im Gran-Sasso-Tunnel schon die nächste Jagdsaison auf das WIMP vorbereitet. Dieses Mal aber sollen nicht weniger als 8,3 Tonnen Xenon die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass sich eines der hypothetischen Teilchen endlich in seinem Atomkern-Gestrüpp verfängt und die beiden verräterischen Lichtblitze auslöst.

Aber auch jenseits des Atlantiks wird das WIMP gejagt. Im Frühling soll ein Tank in einer ehemaligen Goldmine im US-Bundesstaat South Dakota mit 10 Tonnen Xenon befüllt werden. Und ebenfalls ab Frühjahr wird man auch in China mit sechs Tonnen Xenon versuchen, das wissenschaftliche Wettrennen um die Entdeckung des WIMP zu gewinnen.

"Irgendwo muss man mit der Suche anfangen"

Insgesamt wird dann rund ein Drittel der erdweiten Jahresproduktion von Xenon dem Ziel dienen, das laut Goethe schon seinen Faust umgetrieben hatte: erkennen zu wollen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und nicht nur zusammenhält, sondern zuvor erst einmal aufgebaut hatte.

Denn nur die Gravitation großer Mengen von dunkler Materie war stark genug, um die nahezu homogen verteilte Materie im jungen Kosmos zu Galaxien zusammenziehen zu können. Gäbe es keine dunkle Materie, gäbe es auch die Milchstraße nicht.

Im Geheimnis der dunklen Materie verbirgt sich also auch ein Kapitel unserer kosmischen Geschichte.

Und auch wenn sich herausstellen sollte, dass dunkle Materie nicht aus WIMPs besteht, sondern aus ganz anderen Teilchen, wäre die Jagd nach ihnen nicht sinnlos gewesen. Denn wie der WIMP-Jäger Rafael Lang lakonisch sagt: „Irgendwo musste man ja anfangen mit der Suche.“

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