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Studium in Prä-Corona-Zeiten - ein Archivbild aus dem Jahr 2019.

© Sebastian Gollnow/dpa

Ja zu jeder Vorlesung: Endlich wieder richtiges Campus-Leben im Wintersemester

Präsenzlehre, ergänzt durch digitale Angebote: So sollte das kommende Wintersemester aussehen - wenn die Inzidenzen unter Kontrolle bleiben. Ein Gastbeitrag.

Georg Krausch ist Präsident der Universität Mainz, Vorstandsvorsitzender German U15. Günter M. Ziegler ist Präsident der FU Berlin und stellvertretender Vorsitzender German U15.

Mittlerweile sind wir weit drin im dritten Pandemie-Semester. Universitäre Lehre findet praktisch ausschließlich über Webkonferenzsysteme statt, von einzelnen Laborübungen abgesehen.

Studieren unter Corona-Bedingungen heißt: kein Campusgefühl, kein studentisches Leben, keine universitäre Erfahrung, stattdessen viel zu häufig Einsamkeit, Stress, Finanznot, marodes WLAN, Doppel- und Dreifachbelastung durch Care-Arbeit zuhause.

Studieren in diesen Zeiten verlangt allen Beteiligten Enormes ab. Es bringt auch die Lehrenden und das lehrunterstützende Personal an Grenzen. Man kann nicht genug würdigen, was hier seit März 2020 geleistet wird. Wenn wir ehrlich sind, hätte es vor der Pandemie kaum jemand für möglich gehalten, dass der universitäre Lehrbetrieb innerhalb von fünf Wochen komplett auf einen digitalen Modus umschalten könnte.

Entscheidend werden die Abstandsregeln sein

Gegenwärtig richten sich alle Blicke hoffnungsvoll auf erste Öffnungsschritte und auf das Wintersemester. Wir gehen davon aus, dass dann endlich wieder echte Präsenz und Campusleben möglich sein werden, nicht zuletzt dank bahnbrechender mRNA-Impfstoffe, entwickelt von BioNTech und CureVac, Spinoffs der Universitäten in Mainz und Tübingen.

Der entscheidende Faktor für das Wintersemester werden die Abstandsregeln sein. Solange sie gelten, können Räume nur zu weniger als 20 Prozent genutzt werden. Wenn es uns aber gelingt, die Inzidenzen auch bei einem Abstand von weniger als anderthalb Meter unter Kontrolle zu halten, dann haben wir die Chance auf ein Semester fast ohne pandemische Einschränkungen. Es wäre das erste für viele Studierende überhaupt. Das ist unser Ziel. Doch natürlich haben wir auch Pläne für den Fall, dass es doch, erneut, anders kommt, als wir hoffen. Das gebietet die Vorsorge.

Es wird nicht alles sein wie vor der Pandemie

Wie aber würde ein „normales“ Wintersemester aussehen? Was bleibt von dem kreativen Digitalisierungsschub, der aus der Not und über Nacht geboren das Bild von Universitäten so sehr verändert hat?

Pandemiefrei heißt nicht, dass alles so sein wird wie vor der Pandemie. Wir können und wir wollen nicht die Uhr in ein vordigitales Zeitalter zurückdrehen. Angesichts der umfassenden Erfahrungen in der Pandemie muss das Studium durch digitale Angebote ergänzt und bereichert werden.

Wir können dadurch auch mehr Flexibilität schaffen, die hilft, den immer stärker individuellen Lebensentwürfen und -situationen der Studierenden gerecht zu werden, und um Studium mit Kindern oder in Teilzeit einfacher zu machen. Digitale Lehrveranstaltungen im Verbund mit anderen, auch internationalen Partneruniversitäten werden den Austausch beflügeln. Virtuelle Diskussionsforen werden auch künftig viele Lehrveranstaltungen begleiten. Und manch „große“ Vorlesung wird vielleicht ganz digital bleiben.

Doch es ist auch nicht alles Gold, was digital stattfindet. Zwei Dinge sind hier wichtig. Erstens ist im Rahmen der bemerkenswerten Fortschritte in digitaler Lehre auch ein gefährlicher Untoter wieder auferstanden: Der Traum vom Nürnberger Trichter.

Eine Legende aus dem 17. Jahrhundert

Die Legende stammt aus dem 17. Jahrhundert – aus einem Poetik-Lehrbuch des Nürnberger Dichters Georg Philipp Harsdörffer von 1647 mit dem Versprechen, man könne daraus die Dichtkunst in sechs Stunden lernen. Ein leeres Versprechen, wohlgemerkt, das die Natur der Poetik und die des Lernens und Lehrens gleichermaßen verkennt.

Ähnlich naive Hoffnungen hatten zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts auch die Verfechter der “Massive Open Online Courses” (MOOCs), die sich anschickten, durch weltweit verfügbare Online-Vorlesungen hochdekorierter Professor:innen namhafter Spitzenuniversitäten die meisten anderen Universitäten schlicht überflüssig werden zu lassen. Die Euphorie verflog schnell, denn gute Lehre ist eben mehr und anderes als das einsame Studium einer Online-Vorlesung. Sie ist komplex, interaktiv, individuell und dialogisch, im besten Fall „fast wie bei einem Tanz“, wie der Stanford-Literaturprofessor Hans Ulrich Gumbrecht 2013 im Tagesspiegel zitiert wurde.

Braucht es wirklich alle diese Vorlesungen?

Und doch hört man auch jetzt wieder: Braucht es wirklich an jeder Universität in Deutschland jeden Herbst eine eigene Vorlesung in experimenteller Physik und eine Einführung in die Literaturwissenschaft, wenn man diese doch einmal digital aufgezeichnet und damit weltweit verfügbar gemacht hat? Die Antwort ist einfach: Ja!

Weil in jeder erfolgreichen Vorlesung etwas anderes passiert, weil andere Studierende teilnehmen, weil manche mehrere Erklärungen brauchen und von zusätzlichen Perspektiven profitieren. Weil in der Physikvorlesung vielleicht ein neuer Albert Einstein sitzt, der wie der alte langsam und abseits der ausgetretenen Denkpfade lernt.

Eine intensive und produktive Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Inhalten braucht weit mehr als zweidimensionale Videos. Wirkliches Durchdringen bedarf der gemeinsamen Auseinandersetzung, des gemeinsamen intellektuellen Ringens. Und das findet nach wie vor am besten in Präsenz statt, in der Arbeit in kleinen Gruppen mit gutem Betreuungsverhältnis. Wer das nicht schon vor der Pandemie wusste, sollte spätestens nach der Erfahrung der letzten Semester auf den Trichter gekommen sein.

Mehr als Dank und warme Worte

Und daraus folgt der zweite Punkt: Studierende haben nach der Pandemie mehr verdient als Dank und warme Worte für einen anderthalb Jahre währenden Kraftakt, indem sie in höchstem Maße Solidarität und Verantwortungsbewusstsein bewiesen haben. Sie verdienen mehr: Nämlich die bestmögliche Lehre, die ihnen hilft, ihr volles Potenzial entfalten zu können.

Für solch eine Lehre braucht es natürlich ambitionierte digitale Innovationen. Doch es braucht ebenso und vor allem auch echte, substanzielle Investitionen in Universitäten, deren Unterfinanzierung seit Jahrzehnten immer wieder festgestellt worden ist. Es braucht echtes Geld für eine auskömmliche Grundfinanzierung, um Hörsäle und Seminarräume für das 21. Jahrhundert fit zu machen, und - ganz entscheidend - für engagiertes Personal, das die aktuelle Entwicklung der Wissenschaft endlich mit zukunftsweisenden Betreuungsrelationen erfahrbar macht. Das ist übrigens auch ein ziemlich erfolgversprechendes Rezept für eine gute Zukunft nach der Pandemie.

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