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Steven Pinker.

© Mike Wolff

Interview: „Mein Großvater hackte sich den Daumen ab“

Nazi-Morde, U-Bahn-Schlägereien und Bürgerkriege – die Welt ist voller Gewalt. Und doch sagt Steven Pinker: Vieles spricht für eine friedliche Zukunft.

Steven Pinker, 57, geboren in Montreal, Kanada, lehrt Psychologie an der Harvard Universität. Seine Bücher wurden in 20 Sprachen übersetzt, gerade erschien von ihm „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (Fischer). Das „Time Magazine“ zählte ihn zu den „100 einflussreichsten Menschen der Welt“

Herr Pinker, wann haben Sie das letzte Mal jemanden in Gedanken ermordet?
Ich halte es da mit dem amerikanischen Bürgerrechtler Clarence Darrow: Ich habe noch nie einen Menschen getötet, dafür habe ich viele Nachrufe mit großer Freude gelesen.

Die meisten Menschen haben ab und an Gewaltfantasien, ohne deshalb brutal zu werden. Sind gewalttätige Menschen krank?
Wir missbilligen Gewalt, und deswegen vergleichen wir sie mit einer Krankheit. Das ist nur eine Metapher. Man muss keine Gehirnverletzung haben, um gewalttätig zu werden. Die Staatsmänner, die ihr Land in einen Krieg führten, Kämpfer in kriegerischen Gesellschaften oder die Gentlemen, die ihre Ehre in Duellen verteidigten, litten nicht unter einer Krankheit. Sie waren Teil einer Kultur, die es ihnen erlaubte, bestimmte Teile der menschlichen Natur auszuleben, die alle Menschen in sich tragen.

Gewalt steckt in uns allen?

In Männern mehr als in Frauen. Wobei jeder dazu neigt, auf eine Beleidigung oder Verletzung mit Rachegelüsten zu reagieren. In der Natur ist es immer verlockend für Lebewesen, andere auszunutzen. Als wir Menschen uns zu einer sozialen Art entwickelten, haben wir deshalb eine Reihe moralischer Emotionen entwickelt, die uns helfen, die Vorteile von Kooperation zu ernten, ohne ausgenutzt zu werden. Dazu gehört die Dankbarkeit. Wir erweisen sie jemandem, der gut zu uns war. Aber auch die Wut, wenn wir uns ausgenutzt fühlen. Wer wütend ist, wird eher auf Rache sinnen. Das macht es wahrscheinlicher, dass jemand mit ihm kooperiert, anstatt ihn auszunutzen.

Gewalt ist nicht nur Ihr Thema. Grimms Märchen, die Dramen von Shakespeare, Horrorfilme, Egoshooter. Warum ist Gewalt derart faszinierend?
Es gibt diese Faszination, sie ist unbestreitbar. Warum sollte sonst ein absolut friedfertiges, bürgerliches Paar ausgehen und „Richard der Dritte“ genießen oder die Epen Homers? Als denkfähiges Tier ist der Mensch ständig damit beschäftigt, Informationen zu sammeln und Strategien zu entwerfen, was er in einer hypothetischen Situation tun würde. Und Gewalt ist Teil seiner evolutionären Geschichte. Da ist es doch plausibel, dass eine gewisse Neugier über Gewalt hilfreich war. Brutale Unterhaltung lehrt den Menschen womöglich, wie er angreifen und wie er sich verteidigen sollte. Wenn Sie oder ich in einem Kriegsgebiet abgesetzt würden, dann würden wir uns wahrscheinlich als Erstes an all diese Filme und Bücher erinnern, um Regeln abzuleiten, wie wie uns verhalten sollten.

Es handet sich um eine Art Lehrmaterial?
In gewisser Weise schon.

Im Kino treten Clint Eastwood oder Bruce Willis ihren Widersachern erhobenen Hauptes entgegen. Alles Unsinn, wenn man Ihnen folgt. Sie schreiben, reale Gewalt sei meist feige: Menschen erdolchen andere von hinten, greifen an, wenn sie in der Überzahl sind.
Gewalt ist kein Trieb, dem wir einfach freien Lauf lassen. Sie konnte sich in der Evolution nur durchsetzen, weil sie dann ausgeführt wird, wenn die Risiken am kleinsten sind und der Nutzen am größten. Die Attacke von hinten macht sich im Film nicht so gut, aber es ist eine sehr viel intelligentere Art und Weise, Gewalt anzuwenden.

Die meisten Menschen stellen sich Gewalt eher als etwas vor, das sich anstaut und irgendwann ausbrechen kann.
Dieses hydraulische Modell ist falsch. Menschen haben keine gewisse Mindestzahl an Gewaltakten, die sie jede Woche ausführen müssen. Und wenn jemand eine Gewalttat nicht verüben kann, dann wird das Verlangen danach nicht größer und größer. Gewalt ist nicht wie Schlaf, Hunger, Durst oder Sex, sie entsteht aus der Situation heraus.

Es könnte doch sein, dass jemand Freude daran hat, gemein zu sein?
Das ist ein Mythos, dass Böses von Menschen verübt wird, die das bewusst tun, mit dem Wunsch, ihrem Opfer Leid zuzufügen. In Wahrheit glaubt fast jeder Mensch, der Böses tut, er handle richtig, dass er nur tut, was jeder in seiner Situation tun würde, dass er provoziert wurde, dass der Schaden, den er anrichtet, klein ist und nicht gewollt. Die Legende von der Existenz des reinen Bösen entspringt dem Standpunkt des Opfers. Als Beschreibung der Psychologie des Täters ist sie falsch. Doch unsere moralische Intuition geht von diesem Mythos aus, denn wenn wir moralisieren, sind unsere Sympathien beim Opfer.

Als Forscher nehmen Sie den Standpunkt des Täters ein?
So kann es häufig aussehen. Den Wissenschaftler interessieren Ursachen, und der Täter nennt Ursachen. Den Wissenschaftler interessiert der Kontext, und der Täter macht das Umfeld verantwortlich. Das heißt nicht, dass ein Wissenschaftler kein Moralist sein kann, aber während er wissenschaftlich arbeitet, muss er aus der moralistischen Betrachtungsweise heraustreten, um zu verstehen, was passiert und warum.

Sie behaupten, die Gewalt habe im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter abgenommen. Schwer zu glauben, wenn man sich die Welt anschaut: Kriege, Terroranschläge, Demokratiebewegungen, die brutal unterdrückt werden – auch in unserer Umgebung müssen wir von immer neuen, brutalen Übergriffen etwa in der U-Bahn lesen.

Viele Menschen nehmen das so wahr, nur, da sind gleich zwei Fehler drin. Erstens: Ein Zeitpunkt ist kein Trend. Zu sagen, dass heute Gewalt existiert, sagt nichts darüber aus, ob es früher mehr, weniger oder gleich viel Gewalt gab. Und zweitens: Die Zahl an Gewaltakten sagt ihnen nicht, wie häufig Gewalt ist, dazu brauchen sie auch die zweite Größe. Sie müssen wissen, wie viele Gewaltakte auf wie viele Menschen kommen.

Jede Nachrichtensendung widerspricht doch Ihrer These, von einer Welt, die immer friedlicher wird.

Was daran stimmt, ist, dass wir viel mehr mitbekommen. Jeder, der eine Handykamera besitzt, kann heute Gewalt dokumentieren und in die ganze Welt senden, in Echtzeit. Wir können Kamerateams nach Ost-Timor oder Afrika schicken. Die gefühlte Häufigkeit von Gewalt wird davon beeinflusst, wie viele Beispiele von Gewalt Ihnen einfallen – und solange die Gewalt nicht völlig verschwunden ist, wird es immer genug Beispiele geben, um die Abendnachrichten und Ihr Bewusstsein zu füllen.

Sie sagen also, die Medien sind schuld.
Gerade weil Menschen empfindlicher geworden sind gegenüber Gewalt, achten sie mehr darauf. Vor hundert Jahren hätte ein Krieg zwischen afrikanischen Stämmen niemanden interessiert. Man hätte gesagt, das machen Stämme eben so. Wenn damals ein Mörder in Texas hingerichtet wurde, war das keine Gewalt, sondern Gerechtigkeit.

Sind Sie eigentlich jemals selbst Opfer geworden?
Von ein paar kleinen Kindergarten-Streits abgesehen, nein. Es ist die Abwesenheit von Gewalt in meinem Leben, die mich tief beeinflusst hat. Die erste Erinnerung meiner Großmutter mütterlicherseits war an das Pogrom in Kischinjow 1905. Mein Großvater war mit 15 Jahren Kurier für die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg in Polen, er wurde gefangen genommen und gezwungen, in einer Kohlemine zu arbeiten. Mein Großvater väterlicherseits hackte seinen Daumen ab, um nicht in der Armee des Zaren dienen zu müssen, und seine Frau verlor ihre gesamte Familie im Holocaust. Man vergisst leicht, welche Vorzüge es hat, in einer friedlichen, modernen Demokratie aufzuwachsen. Ich vergesse nie, wie viel Glück ich habe.

Sie nennen den Kalten Krieg den langen Frieden. Dabei hatte doch die Menschheit nur Glück. Eine törichte Handlung, und es wäre zum Atomkrieg gekommen, zum größten denkbaren Gewaltakt.
Die Idee, ein kleiner Fehler hätte damals die ganze Welt in die Luft jagen können, ist vermutlich übertrieben. Die Dynamik war nicht wie bei einer Rolltreppe, wo sie einen Schritt machen und dann geht das von selbst immer weiter. Es ist eher wie bei einer Leiter: Mit jeder Sprosse, die Sie hinaufsteigen, werden Sie nervöser und nervöser.

Kennedy und Chruschtschow hatten also Angst, um in Ihrem Bild zu bleiben. Und das macht die Welt sicherer?
In der Kubakrise 1962 haben beide versucht, aus der Situation herauszukommen, in die sie geraten waren. Wie gefährlich es war, können wir nicht wissen, weil wir die Welt nicht hundert Mal als Simulation laufen lassen können, um zu zählen, wie häufig es zum Atomkrieg kommt und wie häufig nicht. Die Annahme, dass wir damals nur knapp der Katastrophe entronnen sind, muss noch einmal auf den Prüfstand.

Woran liegt es dann, dass die Gewalt zurückgeht?
Kommt darauf an, über welche wir sprechen. Wenn es um Straßenkämpfe geht, tödliche Auseinandersetzungen in Bars, dann ist Selbstkontrolle wahrscheinlich das Wichtigste. Wenn wir über institutionalisierte Formen der Gewalt sprechen, die Abschaffung von Sklaverei und grausamen Strafen, internationale Friedenshüter, Demokratie, dann ist es wohl Vernunft.

Und warum haben Selbstkontrolle und Vernunft zugenommen?
Weil sie zu einem objektiv besseren Leben führen. Es mag Vorteile geben, die man durch Aggression erreichen kann. Aber der Nachteil, wenn man nämlich Opfer von Gewalt wird, wiegt viel schwerer. Und über einen langen Zeitraum betrachtet, kann jeder Täter oder Opfer sein. In dem Maß, in dem wir von der Situation abstrahieren können, in der wir uns gerade befinden, werden wir auch eine Gesellschaft befürworten, die Aggression bestraft. Je mehr unser Leben von Vernunft bestimmt ist, je mehr wir aus der Geschichte lernen, auf welche Weise wir unsere Gesellschaft am besten organisieren, umso mehr werden wir Gewalt meiden.

Der Mensch an sich ist doch nicht vernünftiger geworden.
Zur Vernunft gehört auch das kollektive Wissen, das wir im Laufe der Geschichte entwickeln. Unsere Art hatte die Fähigkeit, über mehrere kleinere Entdeckungen, die sich anhäuften, die Integralrechnung zu erfinden, und wenn sie einmal erfunden ist, sie an folgende Generationen weiterzugeben. Nicht anders verhält es sich mit der Logik, mit moralischen Argumenten, historischem Wissen.

Wir treffen uns hier in Berlin, wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem gebildete Menschen vor weniger als 70 Jahren den Holocaust planten. Ihre Bildung hat sie nicht davon abgehalten, einen Massenmord zu begehen.

In Deutschland lebten hochgebildete Menschen, aber ein Teil der Elite hat sich nie den Idealen der Aufklärung verschrieben, der Universalität der Menschenrechte zum Beispiel. Dieser Teil hatte eine elitäre Ideologie, die ganz im Gegenteil auf Blut und Boden und einem völkischen Nationalismus basierte. Die entscheidende Voraussetzung für eine aufgeklärte Gesellschaft ist nicht nur, dass es intelligente, gebildete Menschen gibt, sondern, dass sie sagen können, was sie wollen, ohne umgebracht zu werden.

Kann es sein, dass die Gewalt neue Formen angenommen hat? Die Übernahmeschlachten von heute werden nicht mehr mit Waffen ausgetragen, sondern an der Börse, trotzdem können Menschen dabei auf der Strecke bleiben.
Ich glaube nicht, dass freie Märkte etwas Schlechtes sind. Handel und Wirtschaft haben der Menschheit enorm genutzt, sie haben Wohlstand und Lebenserwartung gesteigert und Gewalt reduziert. Außerdem ist es ein Fehler, das Wort Gewalt auf alles anzuwenden, das wir nicht mögen in der Gesellschaft. Das ist ein rhetorischer Trick, um die Ablehnung, die Menschen gegen Gewalt spüren, für andere Dinge zu mobilisieren. Als ob man jemandem, der Krebs heilt, sagt: Was ist mit all den Formen von metaphorischem Krebs, die in unserer Gesellschaft wuchern. Die hat das Medikament nicht geheilt.

Ist es nicht eine Form von Gewalt, wenn auf Lebensmittelpreise spekuliert wird und anderswo Menschen an Hunger sterben?
Das ist sicher unmoralisch. Aber es ist nicht dasselbe, wie einen Bombenteppich abzuwerfen. Jeder von uns könnte wahrscheinlich Hungertote verhindern, indem er auf ein bisschen Luxus verzichtete. Wir gehen abends in einem schicken Restaurant essen, dabei hätten wir uns auch zu Hause ein Brot schmieren, das Geld spenden und wahrscheinlich ein Leben retten können. Dass wir das nicht tun, ist moralisch möglicherweise nicht zu rechtfertigen. Doch unsere moralische Intuition sagt uns, es ist etwas anderes, als ein Maschinengewehr zu nehmen und Menschen zu töten. Es ist ein Fehler, alles was wir verabscheuen, gleichzusetzen und dann zu sagen, weil es immer noch Dinge gibt, die wir verabscheuen, hat es keinen Fortschritt gegeben.

Der Mensch wird also immer friedfertiger. Ist das nicht eine Utopie?
Ich glaube nicht, dass wir jemals einen Punkt erreichen werden, an dem die Gewalt komplett verschwindet, und ganz bestimmt werden menschliche Spannungen sich nicht in Luft auflösen. Aber es kann sehr viel Spannung und Wut und Ärger geben, ohne dass wir uns gegenseitig so häufig umbringen, wie wir es immer noch tun. Man kann auf eine Welt hoffen, die besser ist als die, in der wir leben, ohne zu glauben, dass es ein Utopia sein wird.

Inzwischen leben sieben Milliarden Menschen auf der Erde, doch die Ressourcen – Wasser, Rohstoffe, fruchtbares Land – sind begrenzt. Ist es nicht wahrscheinlich, dass es in Zukunft zu Verteilungskämpfen kommt und Gewalt und Kriege eher zunehmen?
Das ist möglich, unvermeidbar ist es nicht. Die meisten Kriege werden nicht über das letzte bisschen Wasser oder fruchtbares Land geführt. Sie werden von Rache geleitet, im Namen einer vorgeblichen Gerechtigkeit oder einer Ideologie geführt.

Wir würden gern noch einmal auf unsere Eingangsfrage zurückkommen: In Ihrem Buch zitieren Sie Studien, wonach 70 bis 90 Prozent aller Männer angeben, im Laufe des vergangenen Jahres mindestens einmal eine Mordfantasie gehabt zu haben. Sie sind so ganz anders?
Ich habe schon darüber fantasiert, dass andere Menschen sterben – bei einem Unfall. Wenn jemand von einem Bus überfahren wird, dann ist das ja nicht meine Schuld.

Und Sie dachten nicht an jemand Bestimmtes?
Ach, an so manche Buchkritiker.

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