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© dpa-Zentralbild

Interview: "Die Pharma-Firmen zum Umdenken bewegen"

Bezahlbare Medikamente für die Dritte Welt: Detlev Ganten über den Berliner Weltgesundheitsgipfel – und das Jubiläum der Charité.

Herr Ganten, ab dem heutigen Mittwoch treffen sich in Berlin hunderte Forscher, Politiker und Ökonomen zum ersten Weltgesundheitsgipfel. Warum so ein Gipfel?



Rudolf Virchow, einer der ganz großen Ärzte der Charité, hat gesagt: „Medizin ist eine soziale Wissenschaft und Politik ist nichts anderes als Medizin im Großen.“ Zur 300-Jahr-Feier der Charité beruft man sich natürlich auf die Tradition, aber man muss sie auch in die Zukunft führen. Wir haben deswegen gesagt, wir wollen die politische Dimension der Gesundheit der Weltbevölkerung und die Verantwortung der Medizin, für die sich Virchow eingesetzt hat, deutlich machen.

Was erhoffen Sie sich ganz konkret?

Natürlich erwarten wir keine schnelle Verbesserung der Weltgesundheit, aber wir erwarten einen Stimulus, mehr zu tun als bisher, mehr Leute einzubeziehen und eine breitere Diskussion zu führen. Das wäre schon ein wahnsinnig gutes Ergebnis. Soweit wir das sehen, ist dieser Kongress der erste, in dem von der Grundlagenforschung bis zur Frage „Welche Bedeutung hat das für die globale Gesundheit?“ alles diskutiert wird. Das soll ein Impuls sein, der nicht wirkungslos bleibt.

Wie könnte dieser Impuls denn aussehen?

Es wäre wunderbar, wenn in einem der Workshops klar würde, dass wir bei einem bestimmten Problem mehr tun müssen als bisher. Aber wir haben ja keine Exekutive. Wir können nur auf die überzeugenden Argumente hoffen und die Motivation der Leute, die den Kongress verlassen. Aber es sind wichtige Persönlichkeiten hier und es ist ja auch nur der Beginn einer Reihe von solchen Kongressen. Wir leiten damit einen Prozess ein.

Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, der Gipfel werde eher zu den Problemen beitragen, als sie zu lösen . Es gehe dort nicht um gute Gesundheitsversorgung für alle, sondern um kurative Individualmedizin und den Einsatz von Hochtechnologie. Ein Weltgesundheitsgipfel für die Reichen?

Ganz eindeutig nein. Diese Kritiker haben offensichtlich das Programm nicht gelesen. Wir haben viele Teilnehmer dabei, die sich mit armutsassoziierten Krankheiten beschäftigen, und unabhängige Persönlichkeiten, die manche Kritiker vielleicht nicht so gerne auf ihren Kongressen sehen. Auch die Nichtregierungsorganisationen sind sehr prominent vertreten.

Kann denn ein Medizingipfel überhaupt global sein? Während wir uns in Deutschland über auf den Patienten zugeschnittene Krebsbehandlungen Gedanken machen, sterben doch im Rest der Welt jeden Tag viele tausend Menschen an Krankheiten wie Durchfall oder Masern.

Die Frage haben wir uns natürlich auch gestellt. Aber wir haben das Thema nicht erfunden. Die Vereinten Nationen haben vor 60 Jahren in ihre Charta geschrieben: Gesundheit ist ein Menschenrecht. Alle sind aufgerufen, dafür zu arbeiten. Das Thema steht also im Raum. Die Frage ist, wer engagiert sich dafür und wie.

Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass etwa in Afrika immer noch Menschen an behandelbaren Krankheiten sterben, ist, dass dort das Geld für bestimmte Medikamente nicht vorhanden ist. Der Gipfel wird von zahlreichen Pharmaunternehmen unterstützt. Ist es nicht ein Problem, wenn diese Leute mit am Tisch sitzen?

Aber mit wem wollen Sie es dann diskutieren? Victoria Hale, beispielsweise, die das Institute for OneWorldHealth gegründet hat, das sich für bezahlbare Medikamente für die Dritte Welt einsetzt, ist doch ein interessanter Gesprächspartner. Warum soll sie nicht zu denen sprechen, die es anders sehen? Auch Firmen zum Umdenken zu bewegen ist ein wichtiges Ziel. Und das erreicht man nicht, indem man ohne sie tagt und sie dann mit den Ergebnissen konfrontiert. Es geht darum, den Austausch zu erreichen. Der Kongress ist völlig unabhängig.

Am dritten Tag soll es ja um globale Herausforderungen gehen. Was ist mit der Schweinegrippe? Ist das so eine Herausforderung oder wurde die Gefahr überschätzt?

Die Schweinegrippe ist zurzeit nicht die globale Herausforderung, was Todesfälle betrifft. Sie hat aber gezeigt, dass wir weltweit nicht vorbereitet sind auf solche Pandemien, die plötzlich auftreten und ganze Gesellschaften lahmlegen können.

Ist es sinnvoll, für so eine Impfaktion eine Milliarde Euro auszugeben?

Ich glaube, dass es wichtig ist, infrastrukturell und auch finanziell Mechanismen für den Fall in Gang zu setzen, dass einmal eine wirklich tödliche Pandemie kommt. Damit man dann schnell reagieren kann. Dafür kann man wahrscheinlich nicht genug Geld ausgeben. Mir ist es jedenfalls lieber, dafür eine Milliarde Euro auszugeben als für die Abwrackprämie.

Auf dem Gipfel geht es auch um ganz moderne Entwicklungen, wie die personalisierte Medizin. Wie bekommt man Erfolge aus der Forschung schneller in die Klinik?

Das beginnt in den Köpfen. Ein Kliniker muss wissenschaftsorientiert sein, und ein Wissenschaftler muss klinik- und krankheitsorientiert denken. Das ist nicht immer so. Dazu brauchen sie auch die richtige Ausbildung und Strukturen, die das ermöglichen. An der Charité sind Klinik und Vorklinik unter einem Dach und haben auch ein gemeinsames Budget. Das ist nicht überall so gut gelöst.

Wie lange können wir uns High-Tech-Medizin für alle noch leisten? Kommen wir da nicht an eine Grenze?

Wir werden uns nicht allen Fortschritt auf der ganzen Welt leisten können. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich besonders für evolutionäre Medizin interessiere. Ich glaube, das ist eine Gedankenrichtung, die uns hilft. Viele der Krankheiten, die das Gesundheitssystem teuer machen, sind ja Zivilisationskrankheiten. Die entstehen im Wesentlichen daraus, dass uns die Steinzeit gewissermaßen noch in den Knochen steckt.

Was meinen Sie damit?

Dass unser Genom nicht bei der Verschmelzung von Samenzelle und Eizelle entsteht. Es hat eine Geschichte und die ist 3,5 Milliarden Jahre alt. Wir tragen sie alle mit uns herum. Wir haben uns in einer völlig anderen Umgebung entwickelt als die, in der wir jetzt leben. Und diese Disharmonie, von unserer eigenen Biologie und unserer jetzigen Zivilisation, die müssen wir erkennen. Beim Bluthochdruck zum Beispiel: Wir sind optimiert für das Zurückhalten von Wasser und Salz im Körper, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten. Aber jetzt schwitzen wir weniger und nehmen viel zu viel Salz zu uns. Der Blutdruck steigt an und in der Folge das Risiko eines Hirnschlags.

Und wie verändert das die Medizin?

Es entsteht eine neue Präventionsmedizin, aber eine rational begründete, und keine moralische Keule. Das ist ein ganz neues Denken: Kenne deinen Körper und verhalte dich so, dass du deinem Körper entsprechend so gesund sein kannst wie du möchtest, wenn du möchtest.

Der Gipfel läutet die Feiern zum 300-jährigen Jubiläum der Charité ein. Die Charité wurde errichtet, um Pestkranke zu isolieren. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war sie ein reines Armenkrankenhaus. Wie vollzog sich der Aufstieg zu einer glanzvollen wissenschaftlichen Einrichtung?

Der wirkliche Aufstieg kam durch einen Mann, den die meisten völlig zu Unrecht nicht kennen, den Physiologen Johannes Müller, der 1833 nach Berlin berufen wurde. Er war einer der ersten an der Charité, der eine naturwissenschaftliche Medizin aufgebaut hat. Er hat Tierexperimente durchgeführt und überlegt: Was bedeuten die Ergebnisse für den Menschen? Er war auch ein hervorragender Lehrer. Viele große Ärzte der Charité sind von ihm auf den Weg gebracht worden: Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz, Emile du Bois-Reymond. Die zweite große Etappe war die Infektionsmedizin, die Zeit von Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich. Das waren Giganten der Medizin. Der technikbegeisterte Kaiser unterstützte die Berufungen wichtiger Leute. Um 1900 war Berlin dann ein wichtiges Zentrum der Weltmedizin.

Sie wurden 1993 auf einen Lehrstuhl an der Charité berufen. An der Humboldt-Universität bewerten West-Professoren den Umstrukturierungsprozess nach der Wende inzwischen kritisch – Ost-Forscher seien zu radikal entlassen worden. Wie war das Ihrer Erfahrung nach an der Charité?

Ein solcher Umstrukturierungsprozess geht aus meiner Sicht nicht fehlerfrei. Natürlich sind da Ungerechtigkeiten passiert. Alle haben sich aber unter den gegebenen Umständen größte Mühe gegeben. Da ist mit großer Ernsthaftigkeit, mit viel Sensibilität für Biografien in Unrechtssystemen umgegangen worden. Lassen Sie mich auch noch eines zur Tradition des Hauses sagen. Bevor ich nach Berlin kam, hatte ich mit Tradition und Vaterland wenig im Sinn.

Sie waren in Montreal und Heidelberg.

Ja, und ich habe erst in Berlin wirklich erkannt, welche Kraft Tradition entwickeln kann. Der Zusammenhalt der Charité, so schwierig er mit den vier Standorten ist, wäre noch viel komplizierter zu bewerkstelligen, wenn es nicht die große Tradition als Klammer gäbe. Die großartige Tradition der Charité hilft dem Vorstand und den Mitarbeitern, sich in diesen schwierigen Zeiten immer wieder neu zu motivieren und das zu leisten, was sie leisten.

Das Gespräch führten Kai Kupferschmidt und Tilmann Warnecke.

Detlev Ganten (68) ist Präsident des Weltgesundheitsgipfels in Berlin, der am heutigen Mittwoch beginnt. Zwischen 2004 und 2008 war Ganten Vorstandsvorsitzender der Charité.

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