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Schwere des Ortes. Erst die Besucher machen das Haus der Wannsee-Konferenz zur Gedenkstätte, sagt Hartmann.

© Thilo Rückeis

Holocaust-Gedenkstätte in Berlin: „Vor Heydrich weiche ich keinen Zentimeter“

Mit Haltung und Humor: Deborah Hartmann ist die neue Leiterin des "Hauses der Wannsee-Konferenz". Sie will das politische Profil der Gedenkstätte schärfen.

Eisiger Winterwind weht über das Wasser, der Himmel ist wolkenverhangen. Bei den weißen Klumpen, die in der Gartenanlage des Hauses der Wannseekonferenz verstreut liegen, handelt es sich aber bloß um Schneedekoration. Im Außenbereich der Villa laufen die Drehvorbereitungen zu einem Film über die „Wannseekonferenz“, bei der führende Nazis am 20. Januar 1942 zahlreiche Details des Holocaust besprachen. Damals sah der Garten wohl so ähnlich aus wie jetzt.

„Vorhin wurde ich gebeten, mein Auto wegzufahren, weil der Wagen von Heydrich gleich ankommen soll“, sagt Deborah Hartmann. Sie habe sich aber standhaft geweigert, erklärt die österreichisch-israelische Politikwissenschaftlerin lachend: „Da ging mein jüdisches Selbstbewusstsein mit mir durch – vor Heydrich weiche ich keinen Zentimeter.“

Dreharbeiten

Die 36-jährige Hartmann hat kürzlich die Leitung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz übernommen. Aus Jerusalem, wo sie die deutschsprachige Sektion der International School for Holocaust Studies Yad Vashem mit aufbaute, bringt die gebürtige Wienerin nun jede Menge Erfahrung, Ideen und Humor mit nach Berlin.

Abgesehen von den Dreharbeiten herrscht momentan nicht viel Betrieb auf dem Gelände. Hartmann nutzt die Corona-Pause, um sich mit den Abläufen vertraut zu machen, ihre Kolleg*innen kennenzulernen und die 2019 runderneuerte Dauerausstellung zu begutachten. „Gerade kann ich stundenlang alleine durch die Ausstellung streifen, mir für jedes Exponat so viel Zeit nehmen, wie ich möchte.“

Zugleich aber sei sie nur ungern allein in der Villa, sagt Hartmann. Denn erst durch die Besucher werde das Haus zur wirklichen Stätte des Gedenkens. Durch deren Abwesenheit dringe ihr die historische Schwere des Ortes ungleich stärker ins Bewusstsein. Auch der eigentümliche Widerspruch zwischen der Schönheit der Wannsee-Residenz und dem Umstand, dass hier das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte geplant wurde, werde im Moment besonders offenbar. „Wenn ich aus dem Büro auf den Balkon trete, fühlt sich das noch alles ziemlich surreal an, zumal mit der filmischen Reinszenierung – ich bin mir noch nicht so ganz klar darüber, was das hier gerade mit mir macht“, sagt Hartmann.

Eigentlich sind sie überall, die möglichen Gedenkstätten

Auch wenn ihr der Ort emotional unter die Haute gehe, möchte sie jene in der Gedenkstättenszene als „authentisch“ gelabelten Stätten historisch nicht zu sehr überfrachten, erklärt die Politikwissenschaftlerin. Als wären die Planungs- und Verwaltungsorte des NS-Regimes sowie die Konzentrationslager und Tötungsfabriken die alleinigen „Räume“ des Holocaust gewesen. „Der Schrecken lässt sich nicht an den Wannsee, oder nach Auschwitz und Treblinka verbannen, die europäischen Städte sind ja randvoll mit Orten, die auf die Shoah verweisen“, sagt Hartmann. Auch wenn das manche nicht wahrhaben wollten. Sie selbst ist in Wien in einem Haus aufgewachsen, aus dem ihre Urgroßeltern im Jahr 1941 deportiert worden sind – und das für sie insofern seit Kindertagen auch vom Schrecken der Vergangenheit zeugt.

Deborah Hartmann.
Von Jerusalem nach Berlin. In Yad Vashem hat Hartmann die deutschsprachige Bildungsabteilung mit aufgebaut. 

© Promo

Als Kind besucht sie den jüdischen Kindergarten, später eine jüdische Schule. Während der Schulzeit engagiert sie sich in einer sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation, nach dem Abitur studiert sie Politologie. 2007 macht Hartmann „Aliya“, wandert also nach Israel aus, und gründet dort eine Familie. „Ich habe mich proaktiv auf eine Stelle in Yad Vashem beworben, mir allerdings keine großen Chancen ausgerechnet, weil ich ja noch mitten im Studium war“, sagt sie.

Da sich die deutschsprachige Bildungsabteilung gerade im Aufbau befand, suchte die International School for Holocaust Studies Yad Vashem kompetente deutschsprachige Mitarbeiterinnen. „Ich bekam den Job und war ziemlich überrascht.“ Von ihren Kollegen als „Küken“ bezeichnet, avanciert sie 2015 schließlich zur Chefin der Abteilung. Vor allem organisiert Hartmann Fortbildungen für Multiplikatoren in der Bildungsarbeit und entwickelt Konzepte für den Schulunterricht. Stets im Sinne des historischen Mandats, das Yad Vashem seit den 1950er-Jahren innehat – an die in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden zu erinnern.

Kontinuitäten antisemitischer Gewalt

Über die neue Aufgabe im Haus der Wannsee-Konferenz freue sie sich nicht zuletzt deshalb, weil sich hier verschiedene Blickwinkel miteinander in Beziehung setzen ließen. „Ich finde es sehr interessant, jetzt multiperspektivischer zu arbeiten, zum Beispiel auch Aspekte von Täterschaft mehr in den Blick zu nehmen als vorher.“

Dabei könne sie sich sehr gut vorstellen, das Themenspektrum des Hauses nach und nach zu erweitern – zum Beispiel auch die Antisemitismuskritik noch stärker in das jetzige Programm zu integrieren. So müsse man etwa auch die Kontinuitäten antisemitischer Gewalt besser aufzeigen. Denn eine rein historisierende Betrachtung laufe mitunter Gefahr, den Antisemitismus als ein „Problem von gestern“ zu adressieren. Nicht von ungefähr firmiert auch die für den 20. Januar, zum 79. Jahrestag der Wannsee-Konferenz geplante Veranstaltung des Hauses unter dem programmatischen Titel: „Antisemitismus und Shoah. Zwischen Historisierung und Gegenwartsbezug.“

Überhaupt hält Deborah Hartmann Gegenwartsbezüge in der historisch-politischen Bildungsarbeit für unumgänglich. Es komme aber immer darauf an, auf welche Weise die Verknüpfung von früheren und heutigen Lebenswelten hergestellt würde. Jene aus der Dauerausstellung inzwischen entfernte Station, die eine Parallele zwischen aktuellen Schicksalen von Geflüchteten und der Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Leben in den 1930er Jahren zog, habe diesen schwierigen Balanceakt nicht hinbekommen. Aber auch in solchen Fällen sei eine Auseinandersetzung darüber oft gewinnbringend: „Ich glaube, die Debatte wurde nicht bis in die Tiefe geführt, man hätte die Nachfragen in den Medien als kritischen Impuls verwenden können, um dann das Konzept zu überarbeiten.“

Vergleichen ohne gleichzusetzen

Das habe sie in ihrem Bewerbungsgespräch für die Leitung des Hauses der Wannsee-Konferenz denn auch rundheraus angesprochen. Erfahrungen und Situationen zu vergleichen, heiße ja nicht immer, diese gleichzusetzen. „Was ich mir gewünscht hätte und immer noch wünsche, ist ein kritischer Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen des Gegenwartsbezugs“, sagt Hartmann. Die Vergangenheit dürfe nicht als etwas endgültig Abgeschlossenes erinnert werden – ansonsten drohe die Erinnerungskultur in gleichsam automatischen Routinen zu erstarren. Oder sich zu dem zu entwickeln, was der Autor Max Czollek als „Erinnerungstheater“ bezeichnet – eine für die Nachfahren des Tätervolkes kathartisch wirkende Sühneinszenierung.

Die neue Dauerausstellung. Hartmann wünscht sich einen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen des Gegenwartsbezuges.
Die neue Dauerausstellung. Hartmann wünscht sich einen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen des Gegenwartsbezuges.

© epd

Das Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Flucht- oder Diskriminierungserfahrungen sei für die pädagogische Arbeit ungemein wichtig, so Hartmann.

„Auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, zum Beispiel einer zunehmenden Salonfähigkeit von Rassismus und Antisemitismus drängen sich ja Gegenwartsbezüge förmlich auf.“ Als die Politikwissenschaftlerin einmal eine Delegation des damals noch mit der FPÖ koalierenden österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz durch Yad Vashem führte, erklärte sie denn auch, es falle ihr schwer, hier nur an die Vergangenheit zu denken.

Die Coronapause ermöglicht eine Bestandsaufnahme

Angesichts eines Erstarkens revisionistischer Erinnerungspolitiken und menschenfeindlicher Hetze müssten sich auch die Gedenkstätten klar als politische Akteure verorten. Aktuell arbeite man im Haus der Wannsee-Konferenz deshalb auch an einem Leitbild, sagt Hartmann. Sie selbst würde Mitglieder offen rechtsextremer Parteien nicht durch eine Gedenkstätte führen, auch wenn sie davon überzeugt sei, dass Menschen überwiegend lernfähig seien.

Dabei sei es ihr aber wichtig, nichts „von oben“ zu diktieren, sondern gemeinsam mit den Mitarbeitenden zu schauen, „wer man sein“ und „wie man auftreten“ wolle. So gelte es, die Corona-Pause auch für eine Bestandsaufnahme und ein kollektives Nachdenken zu nutzen: Darüber, welche Themen man setze. Wen man erreichen wolle und wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Welche Materialien noch zeitgemäß seien und was man besser überarbeite. „Was wir brauchen, ist ein Mission Statement, im klaren Bewusstsein unserer gesellschaftspolitischen Verantwortung.“

Der Wind ist noch einmal stärker geworden. Über dem Wannsee beginnt es, zu dämmern. „Heydrich kommt zu spät“, sagt Deborah Hartmann und zeigt auf den Parkplatz, wo ihr Auto steht. „Sorry, das ist mein Yad-Vashem-Humor.“

Veranstaltungs-Hinweis: „Antisemitismus und Shoah. Zwischen Historisierung und Gegenwartsbezug.“ Vortrag und Gespräch zum 79. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, 20. Januar, ab 19 Uhr im Livestream: Anmeldung unter: veranstaltungen@ghwk.de

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