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Elitär. Die Universitäten in Cambridge (hier im Bild) und Oxford sind die einzigen Hochschulen in Großbritannien, die laut einer Analyse nicht vor existenziellen finanziellen Problemen stehen.

© imago images/Imaginechina-Tuchon

Hochschulkrise in Großbritannien: Britische Unis am Abgrund

Das Hochschulsystem im Vereinigten Königreich lebt von Gebühren ausländischer Studierender. Weil sich die in Pandemie-Zeiten rar machen, drohen nun Milliardenverluste.

Studieren war in Großbritannien schon immer ein teurer Spaß, besonders in England. Maximal 9000 Pfund (also fast 10 000 Euro) bezahlen Studierende. Das Geld haben wenige direkt parat. Im März 2019 betrug die Summe der noch ausstehenden Studienkredite 121 Milliarden Pfund.

Demnächst wird es für EU-Bürgerinnen und -Bürger noch teurer, denn wegen des Brexits verlieren sie ab dem akademischen Jahr 2021/22 den Gebühren-Status für Einheimische.

Das bedeutet potentiell: Statt um die 9000 Pfund sind es je nach Studienfach zwischen 10 000 und 38 000 Pfund im Jahr, also maximal fast 42 000 Euro. Das hat Boris Johnsons Regierung im Juni entschieden.

Gebühren auch im Lockdown

Die genaue Höhe der Gebühren können die Universitäten selbst festlegen. Doch da sollten sich zukünftige Studierende nicht zu viele Hoffnungen machen: Den Maximalbetrag schöpfen auch jetzt die meisten Unis aus, zumindest in England.

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Die Änderungen betreffen eine große Anzahl von Studierenden: 2017/18 studierten laut dem UK Council for International Student Affairs 139.150 EU-Bürger in Großbritannien – insgesamt verbrachten 458 490 internationale Studierende das Jahr an den Universitäten des Vereinigten Königreichs.

Die Pandemie konfrontiert britische Universitäten jetzt mit den Folgen eines Hochschulsystems, das auf den Schultern seiner Studierenden aufbaut. Vierzehn Prozent ihres Gesamteinkommens stammen allein von Gebühren ausländischer Studierenden.

Doch obwohl die Universitäten in Großbritannien noch mindestens bis September geschlossen bleiben und die Kurse online stattfinden, sollen die Gebühren weder für dieses noch das kommende Jahr erlassen werden.

Unsere Berichte zur Corona-Lage an den Hochschulen

38.000 Pfund für ein Online-Studium

Bis zu 38 000 Pfund für ein reines Online-Studium – das erscheint dann doch vielen reichlich exzessiv. Nach Berichten des „Guardian“ gingen einige Universitäten bereits zu Beginn der Pandemie von einem Rückgang der Zahl ihrer internationalen Studenten um 80 bis sogar 100 Prozent aus. Die Folge: Die Hochschulen müssen jetzt um ihre Existenz fürchten.

Laut Peter Dolton, Wirtschaftsprofessor an der Sussex University, bezieht die Mehrheit der Universitäten insgesamt sogar um die 75 Prozent ihrer Einnahmen aus den Studiengebühren. Dolton schreibt in seinem Paper für das National Institute of Economic and Social Research, viele Universitäten rechneten damit, dass bis zu 75 Prozent ihrer internationalen und 20 Prozent der einheimischen Studenten wegen der Pandemie im September ihr Studium vorerst nicht fortsetzen werden.

Das bedeutet, so Dolton, dass alle britischen Universitäten, mit Ausnahme von Oxford und Cambridge, in extreme finanzielle Schwierigkeiten geraten würden, bis hin zur möglichen Insolvenz.

Besonders betroffen sind neben kleineren Universitäten die der elitären „Russell Group“ – dazu zählen unter anderem die Universitäten von Edinburgh, Durham und Exeter. Diese nehmen im Schnitt 45 Prozent ihrer Gebühren von internationalen Studierenden ein.

Internationale Studiengebühren fallen weg

Die University and College Union (UCU) warnt, dass in der Hochschulbildung nächstes Jahr allein durch fehlende Einnahmen bei den Studiengebühren 2,5 Milliarden Pfund Verlust entstehen und etwa 30 000 Jobs im Universitätssektor wegfallen könnten, falls die Pandemie nicht unter Kontrolle gebracht wird.

Trübe Aussichten. Den britischen Hochschulen laufen die Studierenden weg.
Trübe Aussichten. Den britischen Hochschulen laufen die Studierenden weg.

© dpa

Allein dieses Jahr werden die Unis laut diesem Report 790 Millionen Pfund verlieren, die sie sonst über studentische Wohnheime sowie Konferenzen und den Betrieb von Mensen einnehmen. Im akademischen Jahr 2021/22 könnten die Verluste durch das Wegfallen von 100 Prozent der Einnahmen durch internationale Studiengebühren 6,9 Milliarden Pfund betragen.

Angesichts dieser Zahlen hatte Universities UK, die Interessengemeinschaft britischer Unis, die Regierung um 2,2 Milliarden Pfund gebeten, um die Verluste aufzufangen. Diese lehnte wenig begeistert ab und gestand ihnen lediglich 100 Millionen Pfund für die direkte Weiterfinanzierung laufender Forschungsprojekte zu. Zudem genehmigte sie einen Vorschuss bei den Studiengebührenkrediten für Bachelor-Studierende in Höhe von 2,6 Milliarden Pfund. Das entspricht zehn Prozent der Einnahmen durch Studiengebühren.

Dass die Aussichten für Studierende nicht gerade rosig sind, zeigt eine Umfrage des British Council: Bis zu 50 Prozent der Postgraduates, die nach Großbritannien kommen wollten, denken nun daran, ihr Studium zu verschieben, 20 Prozent gar, sich einen anderen Studienort zu suchen. Laut einer Analyse des Institutes for Fiscal Studies (IFS) könnte der Unisektor im schlimmsten Fall sogar bis zu 19 Milliarden Pfund verlieren - die Hälfte seiner jährlichen Einnahmen. Das Best Case-Szenario sieht einen Verlust von drei Milliarden Pfund vor.

Entlassungen als Ausgleich für Verluste

Doch es droht ein Teufelskreis: Um die Verluste wettzumachen, werden Entlassungen anstehen. Ist weniger Personal da, wird wiederum die Unterrichtsqualität leiden – noch weniger Anreiz für künftige Studierende, exorbitante Summen in ein Online-Studium zu investieren, wenn individuelle Betreuung nicht mehr gewährleistet sein kann. Mittlerweile gibt es sogar Überlegungen, einige Universitäten, die in finanzielle Schieflage geraten sind, zusammenzulegen – als seien es Firmen, die kurz vor dem Bankrott stehen.

In der Coronakrise zeigen sich wie in zahlreichen Bereichen der Gesellschaft auch im britischen Universitätssektor die Folgen systemischer Probleme. Eine Universitätslandschaft, die extrem kapitalistisch ausgerichtet ist und nur dem mehr als wohlhabenden Teil der Gesellschaft ein Studium ermöglicht, ist zwangsweise abhängig von den Einnahmen durch die Studiengebühren reicher Studierender aus dem Ausland. Besonders lukrativ sind dabei für die Universitäten internationale Studierende aus Ländern außerhalb der Europäischen Union.

Die Bildungspolitik von Boris Johnsons Tories rächt sich nun: Wer im Bildungssektor die staatlichen Hilfen so stark kürzt wie in den letzten Jahren, macht sich abhängig von internationalen Studierenden.
Die Bildungspolitik von Boris Johnsons Tories rächt sich nun: Wer im Bildungssektor die staatlichen Hilfen so stark kürzt wie in den letzten Jahren, macht sich abhängig von internationalen Studierenden.

© AFP

Bisher war das kein Problem: Laut Wirtschaftswissenschaftler Dolton ist die Zahl chinesischer Studierender von 25 000 im Jahr 2016 auf fast 90 000 im Jahr 2019 angestiegen. Eine Verdreifachung der Einnahmen durch dementsprechende Studiengebühren – die jetzt aber eben in großen Teilen wegzufallen drohen.

Johnsons Regierung ist überzeugt, dass ihr Maßnahmen-Paket die Verluste auffangen wird. Man sei der Meinung, dass die Qualität der britischen Universitäten nach wie vor internationale Studierende in großer Zahl anziehen werde.

Mindestens 13 Unis kämpfen ums Überleben

Doch wenn selbst Oxford und Cambridge im nächsten Jahr mit sinkenden Zahlen von Bachelor-Studierenden zu rechnen haben – was wird dann erst aus weniger prestigeträchtigen Institutionen, die auf weniger Spenderinnen und Spender und geringere finanzielle Reserven zurückgreifen können? Laut IFS sind die Aussichten düster: Für mindestens 13 Universitäten gehe es um das nackte Überleben – ohne adäquate Finanzierung durch die Regierung stehen sie vor dem Aus.

Die Regierung hat jetzt – bisher wenig beachtet von britischen Medien – die Subventionierung der Forschung von 100 auf 280 Millionen Pfund erhöht, zumindest soweit man das einer recht vage gehaltenen Pressemitteilung auf der Regierungswebsite entnehmen kann. Diese Mittel sollen aber nur „forschungsintensiven“ Unis zustehen; welche damit gemeint sind oder welche Kriterien gelten, wird nicht verraten.

Die Pandemie setzt dem Brexit quasi die Krone auf. Wie in der Wirtschaft droht Großbritannien jetzt auch an den Universitäten der große Crash.
Die Pandemie setzt dem Brexit quasi die Krone auf. Wie in der Wirtschaft droht Großbritannien jetzt auch an den Universitäten der große Crash.

© REUTERS

Die Gelder sind zudem vor allem für die Natur- und Technikwissenschaften und die Medizin gedacht – von den ohnehin gebeutelten Geisteswissenschaften keine Spur. Genauso nebulös bleiben noch die versprochenen Langzeit-Kredite für ebenjene Universitäten, die „bis zu 80 Prozent“ des Verlusts von internationalen Studierenden ausgleichen sollen.

Bildungspolitik der Tories rächt sich

Kritiker sagen, die Berechnungen des IFS seien zu pessimistisch, sie würden nur bei einer zweiten Covid-Welle zutreffen. So wie die Coronakrise bislang im Vereinigten Königreich verlaufen ist, würde es allerdings gut daran tun, sich potentiell auf genau diesen schlimmsten Fall für den Winter einzustellen.

Auf jeden Fall rächt sich jetzt die Bildungspolitik der Tories: Wer im Bildungssektor die staatlichen Hilfen so stark kürzt wie in den letzten Jahren, macht sich abhängig von internationalen Studierenden, die sich die hohen Gebühren leisten können. Schon vor der Corona-Pandemie war die finanzielle Lage einiger englischer Universitäten prekär. Eine Pandemie hat niemand auf der Rechnung gehabt. Die Quittung dafür kommt jetzt. Wie in der Wirtschaft droht Großbritannien jetzt auch an den Universitäten der große Crash. Die Pandemie setzt dem Brexit quasi die Krone auf.

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