zum Hauptinhalt
Studentinnen der Universität Kabul.

© DAAD/Dieter Ortmeyer

Hochschul-Aufbau in Afghanistan: „Das lässt sich nicht mehr zurückdrehen“

Seit elf Jahren baut der Deutsche Akademische Austauschdienst die Unis in Afghanistan auf. Über Gefahren, Erfolge und auch über die Konkurrenz etwa zum Iran, spricht der DAAD-Koordinator Christian Hülshörster im Interview.

Herr Hülshörster, als Nah- und Mittelost-Koordinator des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes haben Sie in diesem Jahr zwei Mal Afghanistan besucht. Wie ist Ihr Eindruck von der Situation im Land?
Als ich im Januar in Kabul war, warf mich morgens eine nahe Explosion aus dem Bett. Wenige Minuten nach dem Anschlag kam eine „total no movement“-Anweisung von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Das Kabuler Risikomanagement der GIZ wertet Hinweise von Polizei und Nachrichtendiensten auf Bedrohungslagen aus und erteilt Warnungen von der Sperrung eines Stadtteils bis zum totalen Ausgangsverbot. Das schränkt die Bewegungsfreiheit stark ein, ermöglicht es uns aber, überhaupt präsent zu sein.

Trotzdem, können Sie die DAAD-Lektoren und die neue Leiterin des Kabuler DAAD-Büros, Natalie Sharifzadeh, guten Gewissens dort arbeiten lassen?

Es ist nicht unverantwortlich, Leute dort hinzuschicken. Im Stadtgebiet dürfen alle Aufbauhelfer nur in gepanzerten Fahrzeugen unterwegs sein. Aber auf dem Campus der Universität Kabul kann man sich in der Regel frei bewegen, dort ist auch unser Gästehaus mit dem Koordinierungsbüro gelegen. Es ist ein Ort des internationalen Austausches geworden, das hat eine gewisse Lebensqualität. Und für extreme Situationen gibt es einen Panikraum mit Essensvorräten für mehrere Tage. Im Norden Afghanistans, in Mazar-e-Sharif, wo wir an der Balkh-Universität aktiv sind, kann man sich mit normalen Taxen durch die Stadt bewegen und in Privatpensionen wohnen.

DAAD-Koordinator Hülshörster.
Christian Hülshörster (44) ist Leiter der Gruppe Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten beim DAAD.

© Promo

Der DAAD unterstützt den Aufbau der Hochschulen in Afghanistan seit elf Jahren. Was wurde seitdem erreicht?

Wir haben von 2002 bis 2013 insgesamt 30,4 Millionen Euro in den Aufbau von landesweit fünf Hochschulstandorten investiert. In den ersten ein, zwei Jahren ging es um Spontanmaßnahmen: Da haben wir etwa IT-Spezialisten aus Kabul, die dort die Taliban-Zeit überlebt hatten, für eine Sommerschule an die TU Berlin geholt. Dann begann der systematische Aufbau der Fachbereiche, um das Hochschulsystem zukunftsfähig zu machen.

Wie hat sich die Qualifikation des Lehrpersonals entwickelt?

In den Fachbereichen, die wir betreuen, ist heute ein großer Teil der Dozenten auf Masterniveau, ein Teil auch auf Ph.D.-Niveau. Das greift ineinander: Bei der IT haben wir an fünf Unis Curricula implementiert, Rechenzentren eingerichtet und Personal dafür ausgebildet. Dazu parallel läuft ein Masterprogramm mit bislang 25 Absolventen, davon 40 Prozent Frauen. 24 weitere sind noch in dem Masterstudiengang an der TU Berlin. Die Absolventen bekommen in Afghanistan den Tenure-Track zur Professur, aber wir arbeiten auch an einem Weg zur Promotion in Deutschland, ohne dass sie dafür für vier Jahre Afghanistan verlassen müssen.

Wie soll es nach dem Truppenabzug 2014 weitergehen?

Der Stabilitätspakt, aus dem wir bislang alle Programme finanziert haben, läuft Ende 2014 aus. Danach beginnt die Transformationsdekade. Wir gehen davon aus, dass wir bis 2016 weiter 3,2 Millionen im Jahr bekommen, aber auch danach müssen wir uns engagieren. Gleichzeitig wollen wir viele Aufgaben, die jetzt deutsche Dozenten erfüllen, in afghanische Verantwortung geben.

Hat sich auch der Frauenanteil in Studium und Lehre weiter verbessert?

Geschätzt wird, dass der Anteil unter den Dozentinnen seit 2002 von null auf 20 bis 25 Prozent gestiegen ist – mit weiter steigender Tendenz. Unter den Studierenden sind nach meinem Eindruck vielerorts mindestens 50 Prozent Frauen, und sie sind hoch motiviert und meist erfolgreicher als die Männer.

Gehen die Unis Verpflichtungen ein, für die Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen und Meinungsfreiheit zu gewähren?

Wir legen großen Wert darauf, dass Frauen bei Auswahlprozeduren gleichberechtigt oder bevorzugt behandelt werden. Und die GIZ baut derzeit ein Mädchenwohnheim an der Uni Balkh, um jungen Frauen den Weg an die Uni weiter zu erleichtern. Für Meinungsfreiheit auf dem Campus oder Mitbestimmung für Studierende zu sorgen, ist aber nicht die Aufgabe des DAAD. In Afghanistan gilt das Senioritätsprinzip, das können wir nicht unterlaufen. Allerdings wird in Workshops etwa zum Hochschulmanagement über die Förderung junger Eliten diskutiert.

Studentinnen und Studenten sitzen weiterhin getrennt

Sitzen die Geschlechter in Seminarräumen noch immer getrennt?

Das ist so in der afghanischen Gesellschaft, aber im Gegensatz etwa zu Saudi-Arabien werden sie zusammen unterrichtet. Auch Pausengespräche finden statt. Berührt hat mich eine Übung zum Thema Netzwerkbildung, in der die Studierenden mit Bindfäden experimentiert haben. Da wurden Fäden von Männern zu Frauen gesponnen und umgekehrt. Es ist schön, solche Auflockerungen der traditionellen Wertvorstellungen zu sehen.

Im vorigen Jahr haben 140 000 Studienbewerber die zentrale staatliche Aufnahmeprüfung bestanden, aber nur 41 000 einen Studienplatz bekommen. Warum geht es nicht so richtig voran beim nötigen Ausbau der Hochschulen?

Das afghanische Hochschulsystem hat ein massives Kapazitätsproblem, das macht uns große Sorgen. Der Staat müsste die Hilfsgelder der Weltgemeinschaft gezielt in Universitätsprojekte investieren. Die deutsche Seite kann keine Unis gründen, unsere Aufgabe es es, bestehende qualitativ auf eine neue Stufe zu bringen.

Wie sieht es mit der Konkurrenz zu anderen Geberländern aus?

Auf dem Kabuler Campus wurden etliche Neubauten von bestimmten Ländern gestiftet, einige verbinden damit eine politische Agenda. Das gilt definitiv für den Iran, aber auch für die Türkei und Pakistan. Man versucht via Afghanistan einen Korridor der Macht auszubauen. Die Afghanen nehmen die Unterstützung, die sie bekommen.

Verliert die deutsche Seite Wissenschaftler an die Konkurrenz, und kommt es auch vor, dass die Masterstudierenden in Deutschland bleiben wollen?

Es gibt erfolgreiche Abwerbungsversuche, auch durch internationale Organisationen. Die Isaf etwa zahlt IT-Spezialisten viel mehr als die Unis. Aber ein sehr hoher Anteil unserer Leute bleibt an den Hochschulen und geht zurück ins Land. Es gab bislang nur eine Handvoll von Asylanträgen.

Was hat Sie bei Ihren Besuchen besonders beeindruckt?

Die Leute sind nicht nur bildungshungrig. Sie sind mit der Situation im Land und mit der Entwicklung in den letzten Jahren sehr unzufrieden und wollen etwas daran ändern. Sie wollen das Land so aufbauen, dass es lebenswert wird. Das gilt besonders für die jungen Frauen. Gesellschaftlich ist damit etwas erreicht, was sich nicht mehr zurückdrehen lässt.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Zur Startseite