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Opel-Mitarbeiter demonstrieren 2009 im Bochumer Opel-Werk.

© Oliver Berg dpa/lnw

Historiker Jürgen Kocka über die Arbeit und Arbeiter: Die Arbeiterklasse hat ihren Job erledigt

Hilflos gegen Diktaturen, hilfreich für Modernisierung: Jürgen Kocka rekapituliert die Geschichte der Arbeiterbewegung.

Die 100. Wiederkehr der Russischen Revolution(en) des Jahres 1917 stellt die Frage nach der historischen Mission der Arbeiterklasse. Über deren Ende wollte Jürgen Kocka im Rahmen der Vortragsreihe „Kommunismusgeschichte“ der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sprechen; genauer gesagt, das Ende kam nur im Untertitel des Vortrags vor, der allgemeiner mit „Arbeit, Arbeiter, Arbeiterklasse“ angekündigt war.

Es ging dem Berliner Historiker, der bis 2009 an der FU lehrte und das WZB leitete, also nicht primär darum, die erledigte Aufgabe der Arbeiterklasse zu betrachten, als vielmehr den Wandel der Arbeit und der durch sie konstituierten Klasse unter besonderer Berücksichtigung der Sowjetunion. Denn die war das fassbare Ergebnis der Oktoberrevolution. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ging eine Welle von Revolutionen durch Europa, freilich nur in den Verliererländern. Gemeinsam war ihnen die „antikapitalistische Stoßrichtung“ und die führende Rolle der Arbeiter; ungeachtet der Beteiligung von Bauern, Bürgern und – speziell in Russland – der Intelligenz.

Gegensatz von Arbeiterstolz und gedrückter Arbeitswelt

„Unsere Distanz zu den Umwälzungen von 1917/19 ist riesengroß“, markierte Kocka den historischen Abstand, um zunächst die Entwicklung der Arbeit zu skizzieren. Sie wurde im 19. Jahrhundert immer mehr zur Erwerbsarbeit; „unbezahlte Arbeit galt nicht mehr als Arbeit im Vollsinn des Wortes. Arbeit und Nichtarbeit wurden klarer unterschieden als je zuvor“. Paradoxerweise nahm die Hochschätzung der Arbeit zu, obgleich sie vielfach als schwer und unzumutbar empfunden wurde.

„Aber diese Hochschätzung der Arbeit fand in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft keine Erfüllung. Es kam zum Gegensatz von Arbeitsstolz und gedrückter Arbeitswelt“, deutete Kocka eine sozialpsychologische Erklärung für das Entstehen revolutionärer Stimmungen an. Allerdings nicht die verelendete, sondern die aufsteigende Arbeiterklasse trug die Arbeiterbewegung, die sich nicht auf die Durchsetzung von Partikularinteressen beschränkte, sondern allgemeine Fortschrittsinteressen beförderte. Da schimmerte Kockas langjährige Beschäftigung mit der deutschen Situation durch, wo die Gewerkschaften seit der Kaiserzeit zu Trägern des gesellschaftlichen Fortschritts geworden waren.

Gewinner der Oktoberrevolution waren - kurzzeitig - die Arbeiter

Am Ende des Ersten Weltkriegs herrschte überall Sehnsucht nach Frieden. Nicht der Entwicklungsstand des Kapitalismus, so Kocka, entschied über den Ausbruch einer Revolution, sondern Sieg oder Niederlage wie auch die Art und Stärke der Regierungsform: Russland am Vorabend des Oktober 1917 war ein schwacher Staat. Nur dort war die Revolution siegreich. Gewinner waren die Arbeiter, weit weniger die Bauern. Die Notwendigkeit der Besetzung von Führungspositionen in Staat und Wirtschaft nach der Eliminierung der alten Eliten führte zur Privilegierung der Arbeiter. „Andererseits wurde die selbstständige Vertretung der Arbeiterinteressen bereits ab 1919 zurückgestutzt“ – die Gewerkschaften wurden zu „Transmissionsriemen der Politik in die Arbeiterklasse hinein“.

In Deutschland trug die (gescheiterte) Revolution dazu bei, die Demokratie zu prägen, Sozialpolitik zu stärken und ganz allgemein Modernisierung auf den Weg zu bringen. Die Sowjetunion entwickelte sich anders: „Die Revolution erwies sich als erschreckend hilflos gegen ihre Umwandlung in eine Diktatur totalitären Zuschnitts.“

Abhängige Arbeit für Lohn und Gehalt ist heute weniger prägend

Aber auch dort, wo es nach 1917 keine Revolution gab, verblassten die auf die Arbeiterklasse gerichteten Hoffnungen. Auf die nie vollständige Klassenbildung „folgten Prozesse der Klassen-Ent-Bildung“. Es gebe „heute keine Klassengesellschaft mehr“, und „die abhängige Arbeit für Lohn und Gehalt viel weniger prägend für das Selbstbild geworden“, konstatierte Kocka. Das „Gegenüber von Proletariat und Bourgeoisie“ habe „sich verwischt“. Erst recht „hören wir kaum noch etwas von der ,historischen Mission’“.

Muss nun der Arbeiterklasse nachgetrauert werden? Kocka wies auf den „enormen Zuwachs an Lebensstandard und -qualität“ hin. Zugleich wunderte er sich, „wie viele an der Notwendigkeit von Arbeit festhalten, als Quelle von Selbstvergewisserung und Lebenssinn“. An den Erfolg eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ jedoch, wie es in der anschließenden Diskussion folgerichtig zur Sprache gebracht wurde, mag Kocka nicht glauben: „Arbeit ist etwas, das Anstrengung erfordert.“ Das zu leisten, verlangt „ein Höchstmaß an Selbstdisziplinierung“.

Da wären wir bei Max Weber und der – nicht zufällig um 1900 geschriebenen – „Protestantischen Ethik“. Kocka, der Sozialhistoriker, mochte sich darauf jedoch nicht einlassen – er erklärte die Abneigung gegen Mühsal schlicht zur „anthropologischen Grundeinsicht“. Und damit die Unmöglichkeit eines Grundeinkommens für jedermann.

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