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Kenia, Katitika: Der Sohn eines Bauern versucht einen Schwarm Wüstenheuschrecken von einem Feld zu vertreiben.

© Ben Curtis/picture alliance/dpa

Hilfe gegen eine biblische Plage?: Der Stoff, der Heuschrecken Schwärme bilden lässt

Ein Duftstoff macht aus harmlosen einzelgängerischen Heuschrecken Schwärme, die Hungersnöte bringen. Forscher sind ihm auf der Spur.

Wanderheuschrecken hüpfen normalerweise nur vereinzelt durch Wiesen und Fluss-Auen. Manchmal aber schließen sich diese harmlosen Insekten zu riesigen Schwärmen von mehr als einer Milliarde Tieren zusammen, die ganze Landstriche kahl fressen, Ernten vernichten und Hungersnöte in den betroffenen Regionen auslösen können. Seit 2019 etwa hat die Afrikanische Wüstenheuschrecke Schistocerca gregaria die Vegetation in etlichen Regionen zwischen Indien und Tansania zerstört.

Seit Langem vermuten Insektenforscher, dass ein von den Tieren selbst produzierter Lockstoff zur Schwarmbildung führt. Jetzt haben chinesische Forschende offenbar das Pheromon entdeckt, das Europäische Wanderheuschrecken zum „Schwärmen“ bringt: 4-Vinylanisol, oder kurz „4VA“.

Damit sei ein Anhaltspunkt gefunden, um künftig Schwarmbildung zu verhindern – bei der Europäischen, aber vielleicht auch den anderen elf Wanderheuschreckenarten weltweit, schreiben Insektenforscher Le Kang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking und seine Kollegen im Fachblatt „Nature“.

„Der Weg dorthin könnte aber noch sehr weit sein“, warnt Axel Hochkirch, der sich an der Universität in Trier als Naturschutzbiologe mit Heuschrecken beschäftigt. „So haben die Forscher in China den Duftstoff 4VA bisher nur an Europäischen Wanderheuschrecken, nicht aber an der Afrikanischen Wüstenheuschrecke untersucht“, die derzeit Ostafrika heimsucht. Zwar ist es durchaus möglich, dass beide Arten auf 4VA reagieren, einen Nachweis aber gibt es dafür bisher nicht.

Allerdings kann auch die von Le Kang und seinen Kollegen untersuchte Europäische Wanderheuschrecke Locusta migratoria verheerende Wirkungen haben. So drangen Schwärme dieser Art noch 1749 vermutlich aus dem Raum des Schwarzen Meeres entlang der Donau bis nach Wien vor, Ausläufer dieser Plage erreichten später sogar Franken und Thüringen. In anderen Jahren tauchten sie sogar in Norwegen und Irland auf.

Sie fressen 200 Quadratkilometer kahl

Seit die Donau-Auen trockengelegt wurden, spielt diese Art in Europa jedoch keine Rolle mehr. Anders ist das in Afrika, Indien und China, wo die Europäischen Wanderheuschrecken auch in den vergangenen Jahrzehnten zum Teil erhebliche Schäden anrichteten und zum Beispiel 2003 in Nordchina eine Fläche von 200 Quadratkilometern kahl fraßen.

Le Kang und seine Kollegen hatten daher gute Gründe, die 35 Duftstoffe von Locusta migratoria zu untersuchen. Nach aufwendigen Experimenten stellten sie fest: Nur eines davon, 4VA, lockt andere Europäische Wanderheuschrecken an.

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Bei den Wanderheuschrecken schließen sich nicht nur die erwachsenen Tiere zu großen Schwärmen zusammen, die aus beiden Geschlechtern bestehen, auch die „Nymphen“ genannten Jugendformen marschieren bereits in langen Kolonnen. Und tatsächlich wirkt 4VA auf weibliche und männliche erwachsene Heuschrecken ähnlich attraktiv wie auf die Jugend.

Ein Heuschreckenschwarm auf Madagaskar
Ein Heuschreckenschwarm auf Madagaskar

© AFP/Rijasolo

Gleichzeitig ändert sich auch der Körperbau der Tiere deutlich: Die bisher nicht allzu reisefreudigen Einzelgänger verwandeln sich in ein Wander-Modell mit kräftigeren Flugmuskeln, längeren Flügeln und braungrauer statt grüner Färbung. „Diese erheblichen Modifikationen werden von einer ganzen Kette von Reaktionen im Organismus eingeleitet, bei der eine ganze Reihe von Pheromonen und Hormonen eine Rolle spielen“, sagt Axel Hochkirch. „Die Substanz 4VA scheint dagegen nur für die Anlockwirkung, also die Bildung von Schwärmen verantwortlich zu sein.“

Diesen Duftstoff geben die Tiere sowohl über die kräftigen Hinterbeine ab als auch mit dem Kot. Je enger die Nymphen beieinanderleben, umso mehr 4VA produzieren sie. Stecken die Forscher 30 Einzelgänger, die nur sehr geringe Mengen 4VA abgeben, in einen würfelförmigen Käfig von jeweils zehn Zentimeter Länge, Breite und Höhe, stellen die Tiere schon nach einem Tag erheblich größere Mengen dieses Duftstoffes her. Es reichen aber schon vier oder fünf Tiere in dem Käfig, um die 4VA-Herstellung jedes einzelnen zu steigern.

Schalteten Le Kang und Kollegen den 4VA-Rezeptor, die Andockstelle für das Pheromon in den Insektenfühlern, mithilfe eines gentechnischen Tricks ab, reagierten die so veränderten Heuschrecken kaum noch auf 4VA – ein Beleg für die Rolle des Pheromons.

Ihr Lockstoff könnte ihnen zum Verhängnis werden

Das Wissen lässt sich zur Schwarmbekämpfung nutzen: zum einen, indem die Heuschrecken mit dem Stoff in die Falle gelockt werden. Stellten die Forscher in einem Gebiet, in dem Europäische Wanderheuschrecken leben, Klebefallen mit 4VA auf, fingen sich darin signifikant mehr Tiere als in unbehandelten Fallen.

Zum anderen hoffen Le Kang und Kollegen, einen Stoff zu finden, der den 4VA-Rezeptor blockiert. Diese Substanz ließe sich in gefährdeten Gebieten versprühen, um die Schwarmbildung zu hemmen. Möglich wäre es auch, viele Heuschrecken freizulassen, in deren Erbgut der 4VA-Rezeptor gentechnisch verändert wurde. So würde sich eine Heuschreckenpopulation entwickeln, denen das Schwärmen schon im Erbgut abgewöhnt wurde.

„Allerdings ist unklar, ob sich eine solche Mutante in der Natur wirklich durchsetzen würde, da die Kräfte der natürlichen Selektion nicht zu unterschätzen sind“, gibt Axel Hochkirch zu bedenken. „Zudem würde man so nicht das Wachsen der Wanderheuschreckenpopulation bekämpfen, sondern ausschließlich die Schwarmbildung.“

Auch Nebenwirkungen auf andere Insekten- oder Tierarten durch den Einsatz von 4VA oder 4VA-Hemmstoffen müsste untersucht werden. „Obendrein richten solche Mittel gegen die riesigen Heuschreckenschwärme, die zurzeit in Ostafrika unterwegs sind, vermutlich kaum noch etwas aus“, meint Axel Hochkirch weiter. Dafür ist es zu spät.

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