zum Hauptinhalt
Glasfasern schicken per Licht und fast mit Lichtgeschwindigkeit Daten um die Welt.

© M. Tronchetti

Glasfaserkabel als Seismografen: Direkt durchgestellt zum Erdbeben

Längst verlegt, aber ganz anders nutzbar: Glasfaserkabel bieten Seismologen neue Möglichkeiten, um die Gefahr von Erdbeben zu erforschen.

Ein Damokles-Schwert hängt über der Stadt. Seismologen erwarten für Istanbul bald ein schweres Erdbeben. Schon morgen, aber auch erst in 100 Jahren, könnte die Katastrophe die Stadt verwüsten. Genau können Erdbebenforscher das nicht sagen. Doch es ist sicher, dass sich in der nordanatolischen Verwerfungszone, an der Istanbul liegt, durch Verschiebungen der Kontinentalplatten große Spannungen aufgebaut haben. Die müssen sich demnächst entladen.

Vergleichbares befürchten Experten auch für San Francisco und Los Angeles. Auch dort ist ein "Big One" wie zuletzt das verheerende Beben 1906 längst überfällig. Andere Millionenstädte wie Tokio oder Mexiko City sind von ähnlichen Szenarien bedroht. Sie liegen in seismisch sehr aktiven Zonen. Genaue Vorhersagen sind bislang unmöglich, weil auch heute noch zu wenig darüber bekannt ist, was genau da eigentlich vor sich geht. Welche Vorgänge führen tatsächlich zu schweren Beben – oder dazu, dass sich die Spannungen in langsam kriechenden Verformungen des Gesteins in der Tiefe entladen, die oben kaum zu spüren sind?

Eine neue Technologie könnte nun aber das Verständnis der Vorgänge deutlich verbessern. Und nicht nur das. Womöglich hilft das Verfahren auch Vulkanforschern und bei der Verkehrsüberwachung: Seismologie per Glasfaserkabel.

Seismografen sind teuer und werden nur punktuell eingesetzt

Normalerweise nutzen Erdbebenforscher Seismografen oder Geophone. Das sind Systeme, in denen eine Masse an einer Feder aufgehängt und von einem Behälter umgeben ist. Bewegt sich der Untergrund, auf dem das Geophon steht, so bewegt sich die Masse – umso stärker, je heftiger die Erschütterung ist. Die relativen Bewegungen werden gemessen und so Richtung und Magnitude bestimmt. Die Geräte sind allerdings teuer und können nur punktuell – etwa im Bereich einer Verwerfung – eingesetzt werden.

Wie viel besser wäre es, Beben über ein Netzwerk von Sensoren zu registrieren, das insbesondere in dicht besiedelten Regionen längst im Boden steckt, weil man es bislang für etwas ganz anderes verwendet? Genau das haben Seismologen nun vor: Sie wollen Erschütterungen im Boden messen, indem sie Lasersignale durch Glasfaserleitungen schicken – Leitungen, wie sie für die Telekommunikation schon über zig Millionen Kilometer verlegt sind, besonders dicht in urbanen Räumen, aber auch in der Peripherie und sogar unter dem Meer.

Schon seit knapp zehn Jahren werden Glasfaserkabel in der Erdöl-Exploration sowie zur Überwachung von Pipelines oder in der Flugzeugindustrie genutzt, indem man Laser- statt Telefonsignale hindurchschickt. Experten nennen das DTS und DAS – "Distributed Temperature Sensing" und "Distributed Acoustic Sensing" (ortsverteilte Temperatur- bzw. akustische Messung). Die haarfeinen Kabel aus Glas werden etwa zusammen mit einer Pipeline verlegt. Ist sie gebrochen, stößt das Licht in der Leitung auf einen Widerstand und wird reflektiert. Anhand seiner Laufzeit kann metergenau berechnet werden, wo der Defekt aufgetreten ist. Bei Bohrungen lässt sich anhand von Änderungen in der Materialausdehnung auf die Temperatur in der Tiefe schließen.

Knubbel der Glasfaserkabel könnten hilfreich sein

Für die Erdbebenforschung sind die Seismologen nun noch auf eine ganz andere Idee gekommen, DAS anzuwenden: Glasfasern weisen immer auch kleine, einzelne Verdickungen auf, die für ihre normale Funktion völlig unerheblich sind. Aber diese Knubbel werfen Teile des Lasersignals, das in die Glasfaser geschossen wird, zurück. Wenn durch Erschütterungen – aufgrund von Erbeben, über Straßen donnernden Lastwagen oder anderen Störungen – die Glasfaser verschoben, gestaucht oder gedehnt wird, verändert dies auch die Lichtreflektion.

"Selbst Verschiebungen um wenige Nanometer können wir in dem Signal ablesen", sagt Charlotte Krawczyk, Leiterin der Sektion Oberflächennahe Geophysik am Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Die Seismologen schicken gepulstes Laserlicht in die Glasfaser. An verschiedenen Stellen entlang der Faser wird das Licht reflektiert. Wenn sich diese Reflektion nun an einer dieser Stellen von einem Laserpuls zum anderen verändert, wissen die Forscher, dass sich die Leitung dort infolge einer Bodenerschütterung bewegt hat. Anhand der Charakteristik der Veränderung können sie auch ablesen, in welche Richtung und wie stark sie sich bewegt hat.

Im Glasfaserkabel stecken also gleich mehrere Messsensoren. Eine Gruppe um Krawczyk versuchte vergangenes Jahr an einer 1994 verlegten Telefonleitung auf der isländischen Halbinsel Reykjanes, diese auch wirklich zu nutzen. "Wir waren absolut fasziniert von den Ergebnissen", sagt Projektleiter Philippe Jousset, ebenfalls Geophysiker am GFZ. In einem 16 Kilometer langen Kabel verfügten die Forscher alle vier Meter über einen Messpunkt. "Wir hatten befürchtet, dass die Röhren, in denen Glasfaserleitungen verlegt sind, die Bodenbewegungen womöglich abfangen und die Faser selbst sie womöglich gar nicht mehr so gut abbildet", sagt Krawczyk. "Aber dem war nicht so, wir konnten in unseren Signalen sowohl lokale, kleine Beben als auch ein Fernbeben in Japan wunderbar erkennen."

Möglicher Quantensprung in der Erdbebenforschung

Zwar seien Seismografen deutlich sensibler. "Aber auch unsere Daten hatten eine hohe Qualität, und vor allem waren sie fast in Echtzeit verfügbar", sagt Philippe Jousset. Zudem ist die Infrastruktur für diese Art der Messung vielerorts schon vorhanden oder kann vergleichsweise günstig geschaffen werden – in einer Dichte, die mit Seismografen undenkbar ist. "Das macht die neue Methode sehr interessant."

Seismologen der US-Universität Stanford haben in den letzten zwei Jahren im Glasfasernetz unter ihrem Institut ähnliche Tests durchgeführt und waren damit ähnlich erfolgreich. Weitere Forschergruppen weltweit haben Projekte gestartet. "Wenn sich das Verfahren als robust erweist, wäre das ein Quantensprung in der Erdbebenforschung", sagt Jousset.

Bis dahin wird aber noch viel systematische wissenschaftliche Arbeit nötig sein: "Wir haben jetzt nachgewiesen, dass die Methode funktioniert", sagt Charlotte Krawczyk. "Aber wir müssen erst noch sehen, ob dies auch in anderen geologischen Situationen der Fall ist, und ob wir Erdbeben klar von unnatürlichen Erschütterungen etwa durch den Verkehr unterscheiden können."

Hält die Methode auch diesen Tests stand, wären die Möglichkeiten vielfältig: Es ließe sich mit erheblich weniger Aufwand die Erdbebengefahr in einem Neubaugebiet abschätzen und ableiten, welche Bauvorschriften gelten sollten. Vielleicht könnte man sogar mithilfe von Glasfasern die Verkehrsüberwachung optimieren. An Vulkanen verlegte Kabel könnten helfen, das Monitoring ihrer Aktivität zu verbessern.

Im Übrigen ließen sich die geologischen Verwerfungen rund um den Globus zwar nicht flächendeckend, aber doch in nie zuvor erreichter Breite erfassen. Insbesondere das Monitoring in gefährdeten Städten wie Mexiko City, Tokio, Los Angeles und Istanbul würde enorm profitieren. Langfristig, sagt Krawczyk, wenn man die Vorgänge dank der neuen Methode viel besser verstehen würde, könne man vielleicht nicht nur Wahrscheinlichkeiten für Erdbeben berechnen, "sondern mehr in Richtung Erdbebenvorhersage leisten".

Denkbar ist auch ein Tsunami-Frühwarnsystem

Zumindest sollte die Vorhersage von Tsunamis besser funktionieren. Falls sich die Messungen auch bei Tiefseekabeln als solide erweisen – was ein internationales Team inklusive Krawczyks Gruppe als Nächstes testen möchte –, dann könnte man anhand der Lasersignale den auf dem Kabel lastenden Wasserdruck errechnen und so Tsunamiwogen infolge eines Erdbebens frühzeitig erkennen und vor ihnen warnen. Man müsste also an vielen Stellen im Meer nicht erst spezielle Messbojen für ein Tsunami-Frühwarnsystem installieren. Zudem könnte man die Plattentektonik, also die Bewegungen der kontinentalen Erdplatten, besser erforschen.

Wenn die Seismologie per Glasfaser ihr Versprechen hält, würden also die Damokles-Schwerter über den erdbebengefährdeten Metropolen dieser Welt zwar nicht verschwinden. Aber immerhin könnte man die Risiken besser einschätzen und entsprechend planen. Per Glasfaser könnte man also jene Schwerter vielleicht zumindest etwas entschärfen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false