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Entfesselt. Der Neoliberalismus basiert auf der Annahme, dass der Markt (hier die New Yorker Börse) seine Kräfte am besten entfalten kann, wenn er möglichst von staatlichen Eingriffe befreit ist. In verschiedenen Kontexten erwies er sich als flexibel anwendbar.

© Reuters

Geschichte des Neoliberalismus: Ökonomische Schocktherapien mit Folgen

Eine Geschichte des Neoliberalismus: In den 1990ern galt er als Allheilmittel. Jetzt provoziert er populistische Gegenbewegungen - und dennoch wird an seinen Rezepten festgehalten.

Als der Internationale Währungsfonds im Frühjahr 2016 ein selbstkritisches Papier über den Neoliberalismus veröffentlichte, löste dies auf der ganzen Welt ein breites Medienecho aus. Der wahre Wert der Nachricht lag gar nicht in der vorsichtigen Distanzierung von der Austeritätspolitik und einer zu weit gehenden Deregulierung und Liberalisierung, sondern in der Verwendung des Begriffs, der bis dahin von der wichtigsten internationalen Finanzorganisation als pure Polemik verworfen wurde. Insofern kann man den Artikel als eine diskurshistorische Zäsur betrachten, die aber zugleich einen wirtschaftspolitischen Wandel signalisiert.

Im Unterschied zum Marxismus, dem klassischen Liberalismus oder zur christlichen Soziallehre gibt es keine Partei oder Gruppierung, die sich offen zum Begriff des Neoliberalismus bekennt und dabei auf einen bestimmten Kanon an Schriften oder von historisch gewachsenen Grundwerten verweisen würde. Zudem haben sogar jene Ökonomen und Politiker, die sich eindeutig im „Feld“ des Neoliberalismus verorten lassen, diese Bezeichnung seit den 1980er Jahren von sich gewiesen.

Eine wesentliche Stärke dieser Ideologie liegt in ihrer Anpassungsfähigkeit. Der Neoliberalismus konnte auch deshalb eine globale Hegemonie erlangen, weil er sich in verschiedenen Kontexten als flexibel anwendbar erwies. Er ähnelt damit dem modernen Nationalismus, der wirkmächtigsten Ideologie des 19. Jahrhunderts. Diese blieb ideologisch ebenfalls variabel und entfaltete sich in äußerst verschiedenen Kontexten, von „kleinen“ Nationen bis zu imperialen Nation-Building-Projekten.

Der "entfesselte" Markt ist der beste

Der ideologische Kern des Neoliberalismus liegt im „Marktfundamentalismus“ (Joseph Stiglitz). Dem Bild des Marktes, das Milton Friedman und Margaret Thatcher, die wichtigsten intellektuellen und politischen Vordenker des Neoliberalismus, entwarfen, liegt das historische Ideal eines kleinstädtischen Marktplatzes zugrunde, auf dem basale Güter „face to face“ gehandelt werden. Grundsätzlich wurde die Annahme vertreten, dass der Markt seine produktiven Kräfte am besten entfalten könne, wenn er von staatlichen Eingriffen befreit und „entfesselt“ sei. Im Grunde genüge es, wenn der Staat auf seine rechtsstaatlichen Funktionen reduziert wird und das Privateigentum sowie unternehmerische Aktivitäten schützt und stärkt.

Der Neoliberalismus, dessen Wurzeln auf die 1930er Jahre zurückgehen, fristete in der Nachkriegszeit in der Fachöffentlichkeit und politisch zunächst eher eine Randexistenz. Aber in dieser Inkubationsphase entstand ein Netzwerk wirtschaftspolitischer Vordenker und Think Tanks, die ab Mitte der 1970er in Reaktion auf die „Stagflation“ nach der zweiten Ölkrise einen ökonomischen Paradigmenwechsel durchsetzten und in Großbritannien und den USA in den 1980er Jahren die Regierungspolitik bestimmten.

Chile spielte eine wichtige Rolle für den Neoliberalismus

Was weniger bekannt ist: Neben den USA und Großbritannien spielte das Schwellenland Chile eine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung. 1973 beendete der Militärputsch von Augusto Pinochet die sozialistischen Experimente von Salvador Allende. Unter Pinochet schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Er verfolgte eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit umfangreichen Privatisierungen (unter anderem der Post, der Eisenbahn und sogar der Wasserwerke), einer allgemeinen Deregulierung und einer Öffnung Chiles für Importe und ausländische Investitionen.

Die Beurteilung der Wirtschaftspolitik unter Pinochet ist bis heute umstritten. Einerseits begann 1982/83 nach der Überwindung der lateinmerikanischen Schuldenkrise eine bis zur Asienkrise Ende der 1990er-Jahre anhaltende Phase hohen Wachstums. Andererseits entstand eine tiefe soziale Kluft – Ungleichheit wäre fast ein Euphemismus – , die sich wachstumshemmend auswirkte. Dennoch kursiert diese neoliberale „Success Story“ bis heute weltweit. Das belegt zugleich, dass der Neoliberalismus auch als kommunikatives Phänomen zu verstehen ist.

Die Grundidee ähnelt dem Sozialismus

Der Niedergang des Ostblocks löste im Westen eine starke Reaktion aus. Bereits Anfang 1989 schrieb der „New Yorker“: „Der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist beendet: Der Kapitalismus hat gesiegt.“ Im weiteren Verlauf des Jahres vereinbarten die internationalen Finanzinstitutionen und Vertreter der amerikanischen Regierung den „Washington Consensus“. Eigentlich zielte dieser „Konsens“ auf die überschuldeten, von hoher Inflation geplagten Länder Südamerikas. Er diente dann aber als Blaupause für die Wirtschaftspolitik in diversen postkommunistischen Staaten, allen voran Polen.

Es wäre jedoch falsch, den Neoliberalismus allein auf die Dominanz der USA und der internationalen Finanzorganisationen zurückzuführen. Vielmehr nahmen die lokalen Reformeliten die neoliberale Ideologie bereitwillig auf. Die Rezepturen des „Washington Consensus“ waren eine Zukunftsverheißung, wenngleich unter der Prämisse, dass zunächst ein „Tal der Tränen“ zu durchlaufen sei. Diese Grundidee fand auch deshalb so viel Anklang, weil die staatssozialistische Modernisierung auf ähnlichen Vorgaben beruhte: „Alternativlose“ Opfer in der Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft.

Schocktherapien für Polen

Das Musterland neoliberaler Reformen in Europa war zunächst Polen. Im Herbst 1989 verabschiedete die im Juni gebildete Regierung den zehnteiligen Balcerowicz-Plan. Dessen Grundidee war ein Big Bang: Wenn man die Subventionen für Lebensmittel, Energie, Mieten und viele Artikel des täglichen Bedarfs abschaffte, die Preise für alle Produkte freigab, die unrentablen Großbetriebe privatisierte und die Grenzen für ausländische Investoren öffnete, dann würde die polnische Wirtschaft nach einer kurzen, schmerzhaften Anpassungsperiode ein „Equilibrium“ erreichen und wieder zu wachsen beginnen – so die Vorstellung. Finanzminister Leszek Balcerowicz ging bei seinen Reformen von einem Einbruch des BIP um etwa fünf Prozent und einer leicht ansteigenden Arbeitslosigkeit aus. De facto sanken das Bruttoinlandsprodukt 1990 und 1991 um 18 Prozent und die Industrieproduktion um fast ein Drittel. 1992 waren bereits 2,3 Millionen Polen arbeitslos.

Das Beispiel Polen zeigt, dass sich die häufig aufgestellte Behauptung, die Schocktherapie sei die Grundlage späterer ökonomischer Erfolge, nicht aufrechterhalten lässt, jedenfalls nicht im Sinne einer Kausalerklärung von Ursache und Wirkung. Insbesondere in Polen müsste man dann auch die Politik der Postkommunisten berücksichtigen, die 1993 an die Macht kamen und die Reformen zwar nicht aufhoben, aber modifizierten, insbesondere bei der Privatisierung der Großindustrie, die oft etliche Jahre unter staatlicher Regie weitergeführt wurde. Offensichtlich hat dieser Pragmatismus nicht geschadet.

Ein neuer Dreh des Neoliberalismus

In den „Reformstaaten“ bekam der Neoliberalismus Ende der 1990er indes einen neuen Dreh. Seitdem ging es bei der Privatisierung um staatliche Kernkompetenzen wie die Altersvorsorge und das Gesundheitssystem. Auch die Hartz-Reformen waren von Sozialreformen in anderen Ländern, insbesondere Großbritannien inspiriert, der Niedriglohnsektor geht direkt auf die Chicago School um Milton Friedman zurück. Ein weiteres Kennzeichen der zweiten Welle des Neoliberalismus waren die Diskurse um stark vereinfachte und erniedrigte Steuersätze, die sogenannte Flat Tax. Von denen profitierten vor allem Besserverdiener, die dann vermehrt investieren sollten, während die unteren Einkommensschichten Kaufkraft einbüßten. Besondere Sprengkraft hatte die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, die zur Immobilienblase in den USA und vergleichbaren Blasen in Osteuropa führte.

Die Krise von 2008/09 brachte einen tiefen Einschnitt mit sich. Dennoch führte sie zu keinem klaren Bruch mit dem Neoliberalismus, wie sich im Süden Europas zeigt. Entsprechend der Logik der neoliberalen Ordnung und aus akutem Handlungszwang reagierten die südlichen EU-Staaten mit einer strikten Austeritätspolitik, dem ersten Baustein des „Washington Consensus“. Das hatte nicht zuletzt Folgen für die politische Ordnung. Wenn eine bestimmte Politik immer wieder mit dem Begriff „alternativlos“, also letztlich apolitisch und technokratisch begründet wird, dann provoziert dies populistische Gegenreaktionen, die man auch als Re-Politisierung begreifen kann.

Die Grundlagen für populistische Strömungen

Den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus belegen eine Reihe von Wahlkämpfen und -resultaten in verschiedenen europäischen Ländern. Als in Polen von 1998 bis 2002 die zweite Welle der Reformen durchgesetzt wurde und die Arbeitslosigkeit nochmals anstieg, stimmten bei den anschließenden Wahlen mehr als dreißig Prozent der Wähler für rechts- und linkspopulistische Parteien. Die italienische Partei Cinque Stelle war bei den Wahlen von 2013 nicht weit von diesem Resultat entfernt. In Griechenland konnten die Linkspopulisten von der Syriza die Regierung übernehmen. Auch der Sieg der nationalkonservativen Partei PiS Polen beruht auf der Unzufriedenheit der Transformationsverlierer.

Der Aufstieg von Donald Trump im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf lässt sich ähnlich erklären, denn sein wichtigstes Wählerreservoir besteht aus männlichen, weißen Amerikanern mit mittlerer oder niedriger Schulbildung. Diese Bevölkerungsgruppe hat seit den 1980ern am meisten unter der Öffnung der Märkte, der Verlagerung der Industrie und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gelitten. Diese sozialen und politischen Folgen von Liberalisierung und Deregulierung sollten ebenso Eingang in eine kritische Neoliberalismus-Forschung finden wie der strukturelle Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus.

- Der Autor ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Der Artikel basiert auf einem Beitrag für die Internetenzyklopädie Docupedia. Vom Autor ist soeben eine aktualisierte Ausgabe seines Buches „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (Suhrkamp) herausgekommen.

Philipp Ther

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