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Ein Porträt Sigmund Freuds.

© mauritius images

Geschichte der Psychoanalyse: Poliklinik in Berlin, Couch in Kalkutta

Uffa Jensens „Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse“ spürt Sigmund Freuds Lehre bis Indien nach.

Berlin sei „ein schwieriger, aber bedeutungsvoller Boden“ für die Durchsetzung der Psychoanalyse, schrieb Sigmund Freud 1908. Diese Aufgabe traute er seinem deutschen Schüler Karl Abraham zu, der die noch junge Psychoanalyse als Assistent am Burghölzli in Zürich (durch C.G. Jung) und durch Freud selbst in Wien kennengelernt hatte, bevor er 1907 seine eigene Praxis in Berlin eröffnete. 1910 gründete er mit acht Kollegen die Berliner Psychoanalytische Vereinigung – noch vor der in Wien – und 1920 mit Max Eitingon das Berliner Psychoanalytische Institut. Es wurde zur weltweit führenden Ausbildungsstätte für Analytiker und Analytikerinnen wie Karen Horney und Melanie Klein. Im gleichen Jahr eröffnete Abrahams erste Psychoanalytische Poliklinik in der Potsdamer Straße 29.

Ein wahrhaft schwieriger Boden wurde Berlin für Freuds Lehre erst nach Abrahams Tod 1925, als sich Freud-Schüler wie Wilhelm Reich und Harald Schultz- Hencke von der reinen Lehre Freuds entfernten. Reich als Marxist mit seiner Politisierung der Analyse und Schultz-Hencke als Kritiker von Freuds Libidotheorie, der sich zwar noch an Freuds Grundlagen, aber auch an Adler und Jung orientierte. Reich musste 1933 emigrieren, während die „Schriften der Schule Freuds“ wegen „seelenzerfressender Überschätzung des Trieblebens“ von den Nazis öffentlich verbrannt wurden. Schultz-Hencke und Kollegen versuchten dennoch, die Psychoanalyse in Deutschland durch Anpassung am Leben zu halten.

In Berlin: Versuchtes Arrangement mit dem "Dritten Reich"

Für dieses Ziel war die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung mit Freuds Billigung sogar bereit, sich von Wilhelm Reich zu trennen. Aber Freud wollte auch Schultz-Hencke als deren Vorstand und Leiter des Berliner Psychoanalytischen Instituts verhindern. Zu Vorsitzenden und Wortführern des Arrangements mit dem „Dritten Reich“ wurden so Felix Boehm und Karl-Müller Braunschweig, bis die DPG 1936 umbenannt und schließlich aufgelöst wurde. Schultz-Hencke konnte 1940 noch sein Lehrbuch „Der gehemmte Mensch“ veröffentlichen, das auch nach 1945 noch fünf Auflagen erlebte. Alle drei nahmen in der Bundesrepublik wieder führende Positionen in den – zerstrittenen – psychoanalytischen Verbänden ein.

Auch wenn die Psychoanalyse in Deutschland also nicht, wie Freuds Biograf Ernest Jones meint, vollständig „liquidiert“ wurde, war sie durch das – aus taktischen Gründen – „freiwillige“ Ausscheiden jüdischer Analytiker und das noch umfassendere Exil ausgeblutet und isoliert. Ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung erlebte sie vor allem im amerikanischen Exil, wo sie im doppelten Sinn einen neuen Kontinent betrat. Während Reich, aus der psychoanalytischen und der kommunistischen Internationale ausgeschlossen, in den USA seine Orgon-Theorie entwickelte, rissen die Luftwurzeln anderer „Berliner“ wie Erich Fromm und Karen Horney nicht vollständig ab.

Diese und andere Wege und Umwege der Psychoanalyse verfolgt Uffa Jensen, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, in seinem jüngsten Buch „Wie die Couch nach Kalkutta kam“. Seine Studie konzentriert sich zwar auf das Lebenswerk Freuds bis zu dessen Tod 1939, verzichtet aber nicht auf Ausblicke darüber hinaus und auf die Peripherie der Psychoanalyse in den frankophonen Ländern Europas, im fernen Osten und Lateinamerika. Afrika ist ein „weißer“ Flecken auf ihrer Landkarte, die Schweiz als das Reich der Jung’schen Psychoanalyse gewissermaßen Feindesland. Nur streifen kann Jensen die anfangs hoffnungsvolle, später abgebrochene – wo nicht liquidierte – Psychoanalyse in der Sowjetunion. Seine „Globalgeschichte“, die ausdrücklich „keine „Totalgeschichte“ sein will, hält sich an ihre vier Hauptstädte Wien, Berlin, London und Kalkutta.

In Kalkutta war die Couch ein Liegestuhl

Dass er seinen Überblick solchermaßen konzentriert begründet Jensen mit seiner „provokanten“ These: „Die Psychoanalyse wurde an verschiedenen Orten parallel, wenn auch zeitversetzt erfunden.“ Paradebeispiel dafür sei die Sonderentwicklung der indischen Psychoanalyse von Girindrasekhar Bose. Seine Ideen könnten „nicht als Abweichung von oder Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse verstanden werden, sondern müssen als eigenständige Entdeckung gelten“. Das dafür titelgebende Symbol ist bei Jensen die Couch des Psychoanalytikers, die in Kalkutta die Gestalt eines Liegestuhls annahm. Da sich Bose selbst zeitlebens zu Freud bekannte – den ersten Kontakt zu ihm nahm er 1921 auf – und von ihm schonender kritisiert wurde als seine „abtrünnigen“ Schüler, kann es nach Jensen keinen Zweifel an Freuds Urheberschaft der Psychoanalyse geben.

Immerhin stellte Bose ein Kernstück von Freuds Konzept infrage, den Ödipus-Komplex, den er nur bei europäischen, nicht aber bei seinen indischen Analysanden gefunden habe. Er hielt ihn – wie der Anthropologe Malinowski – für in der europäisch-patriarchalen Familie kulturbedingt. In Indien spiele die Mutter eine viel größere Rolle als der Vater und sei wohl auch Motiv für die heimischen Mutter-Gottheiten. Freud hielt dem entgegen, „dass Sie die Effizienz der Kastrationsangst unterschätzen“, auch wenn die „knifflige Ödipus-Materie“ noch nicht gänzlich geklärt sei. Boses in indischer Tradition wurzelnde Ideen seines Hauptwerks „Theory of Mental Life“, speziell die Vorstellung gegensätzlicher Wünsche, sei nicht in der Lage, „Angst oder das Phänomen der Verdrängung zu erklären“.

Trotzdem akzeptierte Freud die Psychoanalyse in Kalkutta als Teil der internationalen Psychoanalyse, wenn auch vielleicht in einem Akt des – analytisch gesprochen – Wunschdenkens. In Ruhe gelassen habe Freud das Thema nie, meint Jensen, zumal im Zusammenhang mit seiner umstrittenen Todestrieb-These: „Sollten die Bengalen um Bose so etwa über Einsichten verfügen, die nicht an den Rand der psychoanalytischen Theoriediskussion gehörten, sondern an deren Kern rührten?“

Übertragung und Widerstand: Freud analysierte Kritiker wie Patienten

Den sah Freud im analytischen Wechselspiel von Übertragung und Widerstand, den er nicht nur bei seinen Patienten, sondern auch bei seinen Kritikern diagnostizierte. Wer beides akzeptiere, hatte er 1914 geschrieben, dürfe sich Psychoanalytiker nennen. Also auch Bose!

Das klang generöser als die Praxis seines „geheimen Komitees“ von 1912 (gegen Abweichler wie Jung und Adler) und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die beide unter der Ägide seines späteren Statthalters in London und Biografen Ernest Jones standen. Jones wachte zu Freuds Lebzeiten institutionell und publizistisch über die Reinheit seiner Lehre und war Herausgeber ihres weltweiten Zentralorgans „International Journal of Psychoanalysis“. In England musste er sich in einem Feld dort praktizierter Analyseansätze von Adler bis Jung durchsetzen, aber schließlich war er es, der mit Freuds Exil in London auch dessen Autorität importierte.

In seiner eigenen Autobiografie berührt Jones einen heiklen Punkt der Übertragung frühkindlicher Emotionen auf den Analytiker. 1908 musste er selbst London für einige Jahre wegen des Verdachts sexueller Übergriffe auf Kinder verlassen. Jones erklärt das als Missdeutung seines Umgangs mit frühkindlicher Sexualität, die von der Psychoanalyse entdeckt, aber in der Öffentlichkeit skandalisiert wurde. Das ist ein Thema, das nicht nur bis heute – etwa im Fall des Berliner Psychologen Helmut Kentler und anderer 68er – die Öffentlichkeit beschäftigt. Die Psychoanalyse kennt die therapeutisch erwünschte Übertragung libidinöser Impulse auf Bezugspersonen als Risiko ihrer Freisetzung, die sie durch professionelle Distanz – etwa die Platzierung des Analytikers hinter der Couch – kontrollieren möchte, um sie nach erfolgreicher Verarbeitung wieder zu lösen. Die mögliche Gegenübertragung des Analytikers auf den/die Analysand(inn)en gilt als Kunstfehler, wenn nicht als Verfehlung. Beispiele sind die Beziehung C.G. Jungs zu seiner Schülerin Sabina Spielrein oder Sandor Ferenczis Liebeserklärung an eine Patientin, die Freud als Lehranalytiker auf den Plan rief.

Kraus, Popper und Tucholsky verspotteten die Psychoanalyse

Emotionsforscher Jensen erkennt in der analytischen Mobilisierung und Bearbeitung von Emotionen die Quintessenz der Psychoanalyse. Sie sei nur – zumal in Freuds Version – entweder als „liberal-aufgeklärtes Projekt“ der Triebsteuerung oder im Gegenteil als Entfesselung der Sexualität missverstanden worden. Karl Kraus hat die Psychoanalyse als die Krankheit verspottet, „für deren Therapie sie sich hält“, Karl Popper hat sie als „Pseudowissenschaft“ verworfen, Kurt Tucholsky als Zeitgeistwahn veralbert: „Jeder Jüngling von etwas guten Manieren / geht heute mal Muttern deflorieren./ Jede Frau, die in die Epoche passt / hat schon mal ihren Vater gehasst./ Und die Geschichte stammt aus Wien / und darum ist sie besonders schien!“

Dagegen setzt Jensen Ergebnisse neurobiologischer Scans, die beim Vergleich von Gehirnaktivitäten „romantische“ Geschlechtsliebe und Mutterliebe in denselben Hirnregionen verorten und Freuds Libidobegriff zu bestätigen scheinen. „Welche Gehirnaktivitäten“, schließt er ironisch, „würde ein fMRI-Scanner wohl aufzeichnen, wenn wir ein Bild unserer Psychoanalytikerin gezeigt bekämen?“

Uffa Jensen: Wie die Couch nach Kalkutta kam. Suhrkamp Verlag, 2019. 538 Seiten, 28 Euro.

Hannes Schwenger

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