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Geschichte: Angriff der Killerlaus

Die Winzer versuchten es mit Schwefel, Jauche, Urin. Vergebens – die Läuse aus Amerika waren nicht aufzuhalten. Vor 150 Jahren kam die Katastrophe über Europas Reben. Weshalb der Wein heute ein anderer ist.

Mitte des 19. Jahrhunderts, der genaue Tag und das Jahr sind nicht überliefert, betritt Phylloxera vastatrix europäisches Festland. Ein winziges Insekt mit scharfen Zähnen und Saugrüssel. Von der nordamerikanischen Ostküste aus ist es auf einem Dampfschiff über den Atlantik gereist, fast 6000 Kilometer weit – als blinder Passagier.

Die Reblaus ist ein unscheinbares Tierchen, knapp eineinhalb Millimeter groß, und sie kommt als Eroberer. 1863 wuseln seine Urenkel bereits in den Weinregionen von ganz Südfrankreich umher, nagen und saugen an Blättern und Wurzeln der Reben. In kurzer Zeit dringen Heerscharen von ihnen nach England, Deutschland, Osteuropa, in die Schweiz vor, nach Portugal, Österreich und Spanien. In gerade mal 20 Jahren werden sie zwei Drittel des europäischen Weins vernichten.

Rebläuse sind Fortpflanzungsgenies, können sich durch Klonen und durch Sex vermehren. Manche bilden Flügel aus und reisen Dutzende Kilometer weit durch die Luft, um an einem neuen Ort den Reben die Lebenskraft auszusaugen.

Egal, wo der Parasit auftaucht: Phylloxera vastatrix verbreitet Schrecken und Verwüstung. Auf edelsten Weingütern kränkeln plötzlich die Reben, Winzer verzweifeln. Warum vertrocknen ihre Weinstöcke trotz ausreichender Bewässerung? Und was sind das für seltsame Hubbel an den Blättern der Reben?

Das Knabbern der Läuse an den Blättern – das zur Ausbildung dieser Beulen führt – ist für die Reben nicht weiter gefährlich. Saugen die Parasiten jedoch an den Wurzeln, greift ihr hormonhaltiger Speichel das Wurzelgewebe an, löst Schwellungen und Deformationen aus. Die Nährstoffaufnahme wird blockiert, und bald verdorrt der ganze Weinstock.

Dass Zwergläuse hinter dem mysteriösen Rebensterben in Europa stecken könnten, ahnt lange Zeit niemand. Die Parasiten sind mit bloßem Auge kaum zu sehen. Und außerhalb von Nordamerika noch völlig unbekannt.

Als Phylloxera vastatrix mit dem Dampfschiff in Europa ankommt, ist das nicht die erste fatale Pflanzenlieferung aus Amerika. Bereits wenige Jahre zuvor, in den späten 1840ern, war – wohl durch den Import von Setzlingen – eine gefährliche Rebenkrankheit aus Übersee eingeschleppt worden. Der Echte Mehltau ist ein Pilz, der Blätter, Blüten und Trauben befällt. Daher bestellen europäische Winzer Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Setzlinge aus den USA. Denn die dortigen Rebsorten sind gegen die Pilzkrankheit immun.

Noch im 17. und 18. Jahrhundert wurden aus Übersee ausschließlich Weinsamen importiert. Großsegler brauchten sechs bis zehn Wochen, um den Atlantik zu überqueren. Rebsetzlinge hätten eine so lange Reise nicht überstanden – und die Samen waren nicht mit Pilzen und Läusen verseucht. Jetzt jedoch, Mitte des 19. Jahrhunderts, brausen Raddampfer und Propellerschiffe über den Ozean, schaffen es in nur 14 Tagen von New York nach Southampton oder Cherbourg in Nordfrankreich. Da überlebt auch mal eine Laus an den Wurzeln eines Setzlings die große Überfahrt.

Lange treiben die Rebläuse in Europa im Verborgenen ihr Unwesen. Erst 1863 werden erste Exemplare in einem Gewächshaus vor den Toren Londons gesichtet. Mit dem geheimnisvollen Rebensterben, das in Südfrankreich grassiert, bringt diese Winzlinge niemand in Verbindung.

In Südfrankreich werden die ersten Läuse 1868 – die Weingebiete sind bereits schwer geschädigt – auf Reben in unmittelbarer Nähe von Eichenwäldern aufgespürt. Auf den Blättern der Bäume finden Biologen sehr ähnlich aussehende Blattläuse. Sind die Parasiten also von Laubbäumen in die Weinberge hinübergewandert? Und falls ja: Lässt sich das Parasitenproblem womöglich durch das Abholzen dieser Wälder in den Griff kriegen? Nein. Bald stellt sich heraus, dass die Blattläuse auf den Eichen zu einer anderen Art gehören und sich vollkommen anders verhalten als die Rebenkillerinnen.

Ein französischer Winzer namens Gaston Bazille ist einer der Pioniere, die sich um eine genauere Erforschung von Phylloxera vastatrix verdient machen. Gemeinsam mit Kollegen gräbt er im Jahr 1868 Rebwurzeln aus. An denen drängen sich die gelblich glänzenden Läuse so dicht, dass es wirkt, als seien die Wurzeln mit einer Lackschicht überzogen. Monsieur Bazille entdeckt auch, dass amerikanische Reben ebenfalls befallen werden, im Gegensatz zu den europäischen gehen sie jedoch nicht daran zugrunde. Diese Wildreben haben sich seit der letzten Eiszeit nämlich getrennt von den europäischen Vitis vinifera entwickelt, werden Forscher später herausfinden. Im Laufe der Jahrabertausende wurden ihre Wurzeln reblausfest. Der Saft amerikanischer Reben scheint den Läusen darüber hinaus nicht sonderlich zu schmecken. Auf die europäischen stürzen sie sich dagegen wie Tiger nach jahrelanger Zwangsdiät.

Was tun gegen die Läuse? „Zigeuner-Urin“ sei das ideale Gegengift, mutmaßen französische Winzer zunächst. Da die Notdurft von Roma- und Sintifamilien auf die Schnelle schwer zu beschaffen ist, lässt man stattdessen regelmäßig Schulkinder zum Pinkeln in die Weinberge ausschwärmen. Die Reblaus gedeiht weiterhin prächtig und produziert Kinder und Kindeskinder – bis zu zwölf Generationen pro Jahr.

Andere Weingärtner bekämpfen die Laus mit Schwefel, Petroleum oder Jauche. Vergeblich. Wieder andere setzen ihre Reben unter Wasser, wollen die Parasiten ertränken. Doch bei Weinbergen stößt auch diese Methode an ihre Grenzen. 1870 prüft in Paris eine Nationale Reblauskommission mehr als 500 weitere Vertilgungstechniken. Biologen versuchen etwa, ein fleischfressendes Insekt aus den USA namens Tyroglyphus phylloxera anzusiedeln: einen Todfeind der Reblaus. Doch das Raubtierchen verträgt das Klima in Frankreich nicht und verschwindet bald wieder von der Bildfläche. Kein einziger Vorschlag überzeugt.

Dennoch werden im November 1881 auf dem „Internationalen Reblauskongress“ in Bordeaux verbindliche Maßnahmen beschlossen. Erstens: alle verlausten Flächen komplett entwurzeln. Zweitens: das explosive, penetrant stinkende Nervengift Schwefelkohlenstoff ausbringen.

Nach dieser Rosskur sind in vielen Weingebieten Boden, Flora und Fauna nachhaltig verseucht – und zumindest auch die Rebläuse mausetot. Viele Winzer träumen davon, nun robuste amerikanische Wildreben auszupflanzen, um die Lausplage endgültig vom Hals zu haben. Wäre da nicht das Geschmacksproblem. Die Crux dieser Wildsorten ist der sogenannte „Fox“-Ton („Fuchsaroma“). „Chatzeseicheler“ wird es in der Schweiz treffend genannt, zu Deutsch „Katzenpisser“: beißend-scharf und gleichzeitig unangenehm süßlich. Durch das Einkreuzen europäischer Edelsorten versuchen die Weingärtner, den Foxton wegzuzüchten. Doch auch das Aroma der Trauben dieser europäisch-amerikanischen Hybride hält dem Urteil der Konsumenten nicht stand.

Es ist zum Läusemelken. Eine Rebe, die sowohl die Vorzüge der amerikanischen Wildarten als auch die der Edelsorten aus Europa vereint, wäre perfekt: hohe Qualität der Trauben und Reblausfestigkeit. Ein uralter Trick bringt schließlich die Erlösung: pfropfen.

Bei Apfelbäumen ist dieses Verfahren bereits seit der Antike bekannt. Der Stamm eines Baumes wird gespalten, man steckt Triebe von einer anderen Pflanze hinein und verstreicht das Ganze mit Harz oder Bienenwachs. Nachdem die Schnittstellen verwachsen sind, trägt der Baum schon bald die Früchte der aufgesteckten „Gastpflanze“.

Wer als Erster auf die Idee kam, diesen Kunstgriff auch bei Reben anzuwenden, ist nicht überliefert. Doch die Idee ist unbezahlbar. Die französischen Winzer beginnen bereits Anfang der 1880er Jahre im großen Stil zu pfropfen, also Edelreiser aus Europa auf robuste amerikanische Rebwurzeln zu stecken. In Deutschland und anderen Ländern dauert es hingegen deutlich länger, bis sich das Verfahren etabliert.

Auch die Tatsache, dass die Reblaus als blinder Passagier aus Amerika eingewandert ist, wird vielerorts noch lange bestritten. Phylloxera vastatrix sei „nicht eingeschleppt“ worden, schreibt etwa ein führender deutscher Obstkundler im späten 19. Jahrhundert, sie entstehe vielmehr an der Rebe selbst: „Aus der kranken Wurzel tritt sie hervor wie ein Pilz.“ Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts können manche Arbeiter auf deutschen Weingütern Weinbergschnecken nicht von Rebläusen unterscheiden.

Erst in den 1930er Jahren setzen sich die reblausfesten Pfropfreben auch in Deutschland durch. Das Erfreuliche für alle Weinbauern und -liebhaber: Die widerstandskräftigen Wurzeln der Wildreben aus den USA beeinflussen den Geschmack des Weins nicht negativ. Anfangs ist der gepfropfte „Amerikanerwein“ umstritten, doch der Geschmack überzeugt bald auch die größten Skeptiker.

Manche Fachleute behaupten zwar bis heute eisern, die europäischen Weine seien vor der Reblausplage „noch viel besser“ gewesen. Und sie schwören auf ungepfropfte „wurzelechte“, rein europäische Stöcke mit niedrigen Erträgen. Der wahre Kenner bemerke einfach den Unterschied, sagen sie. Nicht minder kompetente Weinliebhaber entgegnen, diese Einschätzung sei lediglich ein Ausdruck antiamerikanischer Ressentiments.

Fest steht: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben die fleißig pfropfenden Winzer in Europa Phylloxera vastatrix weitgehend im Griff. In den 1980er und 90er Jahren richtete die Reblaus – Ironie der Geschichte – ausgerechnet in ihrer Heimatregion, dem Osten der USA, gewaltige Schäden an. Im berühmten Napa Valley, wo in sonnigem Klima auf 15 000 Hektar edle Trauben wachsen, auf gediegenen Weingütern mit weiß getünchten Herrenhäusern und in weiteren Weinregionen Nordkaliforniens lässt sie in den frühen 1990er Jahren die Hälfte der Reben verdorren.

Winzer und Biologen sind leichtsinnig geworden. Seit den 1960er Jahren haben etwa Weinbaukoryphäen kalifornischer Universitäten eine amerikanisch-europäische Hybridsorte namens AxR1 als Wurzelunterlage empfohlen, um die europäischen Edelsorten aufzupfropfen: Denn AxR1Reben wachsen rasend schnell und seien angeblich – genau wie die rein amerikanischen Wildsorten – reblausresistent.

Die meisten Winzer in Kalifornien sind während des amerikanischen Weinbooms in den 1970er Jahren auf Wurzeln dieser Hybridsorte umgestiegen, haben alle Warnungen ignoriert. 1982 gab es erste Anzeichen, dass die Reben im Napa Valley zu wenig Feuchtigkeit aufnehmen. Die Winzer nahmen auch diese nicht ernst. Im Jahr darauf entdeckten sie schließlich die ersten Läuse an den Reben. Mitte der 1990er Jahre mussten im Napa Valley mehr als die Hälfte der Weinbaugebiete neu bepflanzt werden – mit Pfropfreben. Das kostete zwei Milliarden Dollar.

Sogar die Raumfahrtbehörde Nasa beteiligt sich in Nordamerika seither an einer Überwachung der Weinbaugebiete mittels Satellitenbildern. Treten seltsame Verfärbungen auf, die auf Reblausschäden hindeuten, wird Alarm geschlagen. Der Schädling kann nämlich jeder Zeit wieder loslegen, vermuten manche Experten, womöglich gar als mutierte Superreblaus. Überwachung mittels Satellitentechnik, Reblausmonitoring, Reblausmanagement: Das sei auch in Europa die Zukunft des Weinbaus, behaupten sie. Bis jetzt verhält sich die Laus auf dem europäischen Kontinent allerdings seit Jahrzehnten relativ ruhig. Verdächtig ruhig, sagen manche.

Die Reblaus hat bereits viel Unheil angerichtet, seit sie europäischen Boden betreten hat. Doch es gibt auch Gewinner in dieser Geschichte. Als sich Phylloxera vastatrix in den frühen 1860er Jahren in ganz Frankreich und Spanien breitzumachen begann, verschonte sie das Rioja-Gebiet im Ebrobecken. Auf der Flucht vor dem Parasiten emigrierten zahlreiche französische Winzer daher in diese Region Nordspaniens – und brachten ihr Fachwissen und ihre Erfahrung mit. Seit jener Zeit ist Spanien, insbesondere dank der weltberühmten Rebensäfte aus der Rioja-Region, zu einer ernsthaften Konkurrenz für das glamouröse, traditionsreiche Weinland Frankreich aufgestiegen.

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