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Als dumm dargestellt. Schüler und Schülerinnen mit Lernstörungen werden besonders häufig gemobbt. Das Foto zeigt ein Anti-Mobbing-Training in der Schule.

© picture alliance / dpa

Gemobbten Schülern helfen: „Du bist in Ordnung!“

Mobbing belastet Kinder mit Lernstörungen zusätzlich. Umso wichtiger ist der Ausgleich in den Ferien.

Endlich Ferien! Die sechs freien Wochen vor dem Start in eine neue Klassenstufe oder gar eine neue Schulart tun wohl allen Schülerinnen und Schülern gut. Für einige von ihnen bedeuten sie noch dazu eine Verschnaufpause von schwer erträglichen Verhaltensweisen ihrer Mitschüler. Die sie als dumm bezeichnen, ständig ihr Aussehen, ihre Klamotten und ihr Verhalten kritisieren, sie vor anderen bloßstellen und erniedrigen, von Gruppenunternehmungen ausschließen, mit Anrufen tyrannisieren.

Im schlimmsten Fall wiederfährt ihnen, was die Anti-Mobbing-Fibel des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin Brandenburg (LISUM) als „vorsätzlichen heimtückischen Angriff auf das soziale Ansehen und die seelische Gesundheit der Zielperson“ beschreibt. Ein weiteres Kriterium dafür, dass die Angriffe mehr sind als einfaches „Hänseln“, ist ihre Dauer. Und nicht zuletzt gehört zum Mobbing auch eine Asymmetrie in den Beziehungen zwischen den Heranwachsenden.

Fallen Kinder, die sich beim Lesen, beim korrekten Schreiben oder beim Rechnen schwerer tun als ihre Altersgenossen, solchen Attacken besonders leicht zum Opfer? Das lässt eine Studie zu psychosozialen Belastungen und Lernschwierigkeiten (PuLs) fürchten, für die Mitarbeiter der Duden Institute für Lerntherapie die diagnostischen Eingangsgespräche mit über 200 Heranwachsenden und deren Eltern auswerteten. 26,4 Prozent aller Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche sind den Angaben der Familien zufolge schon einmal Opfer von Mobbing geworden.

Viele berichten von psychischer Gewalt

Die allermeisten berichteten von psychischer, nur wenige von körperlicher Gewalt. Jugendliche aus den Klassenstufen sechs bis zwölf haben der Untersuchung zufolge (mit 43,5 Prozent) mehr unter solchen Angriffen auf ihre Person zu leiden als Kinder der Klassen eins bis fünf (mit 21,3 Prozent). Meist werden dabei Mitschüler und Mitschülerinnen als Täter genannt, immer wieder aber auch Lehrer und Erzieher.

Der Psychologe Lorenz Huck, der die Studie leitete, ist auch aufgrund seiner früheren Erfahrungen als Schulpsychologe überzeugt: „Kinder mit Lernschwächen sind vom Mobbing stärker betroffen.“ Allerdings ist es extrem schwer, Vergleiche zu ziehen, weil die Zahlen, die derzeit zur Verbreitung von Mobbing in Schulen in der Fachliteratur kursieren, stark schwanken: Während der FU-Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer in einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 für die fünfte bis zehnte Jahrgangsstufe angibt, dass 10,6 Prozent der Schüler betroffen seien, kommt eine Metaanalyse von 80 internationalen Studien aus dem Jahr 2014 zu dem erschreckenden Ergebnis, dass 35 Prozent der Zwölf- bis 18-Jährigen Mobbing-Erfahrungen haben. Dass die Zahlen so unterschiedlich ausfallen, dürfte auch mit unterschiedlichen Definitionen und Erhebungsmethoden für das Phänomen Mobbing zu tun haben.

Hinter einer Lernstörung stecken oft seelische Nöte

Gut belegt ist indes, dass Kinder mit der Diagnose „Lernstörung“ häufiger als ihre Altersgenossen in verschiedensten seelischen Nöten stecken. Ängste, Störungen des Sozialverhaltens, Depressionen, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS, all das wird bei ihnen häufiger festgestellt.

Doch wie sehen die Zusammenhänge genau aus, was kam zuerst, das Schulproblem, die emotionale Auffälligkeit, das Gehänselt-Werden? Bei ADHS und Legasthenie werden nach neueren Erkenntnissen gemeinsame Ursachen vermutet. „Die Kinder haben aber auch ein sechsmal höheres Risiko, eine Angststörung zu entwickeln“, berichtet die Pädagogin Katharina Galuschka, die an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni München zur Lese-Rechtschreib-Schwäche forscht. Bei Älteren, die zudem noch stark von den Lern-Problemen betroffen sind, sind die Ängste stärker. „Das stützt die Annahme, dass sie von der Lernstörung verursacht wurden“, sagt Galuschka. Kinder, die erkennen, dass sie sich mit Dingen schwer tun, die andere spielend lernen, fühlten sich deshalb oft einfach „dumm“.

Die Chance der Eltern gegenzusteuern

Doch gerade in den Ferien haben die Eltern gute Chancen gegenzusteuern. „Das Beste, was sie machen können, ist für Ausgleich zu sorgen und das Selbstbewusstsein der Kinder in anderen Bereichen zu stärken“, sagt Galuschka. Auch Psychologe Huck empfindet die Verschnaufpause als Chance für die Eltern, ihrem Kind zu vermitteln: Du bist in Ordnung, so wie Du bist! „So können etwa Kontakte zu Gleichaltrigen in Sommercamps oder bei Ferien-Workshops zu der erleichternden Erkenntnis führen: ,Ich bin nicht in jeder Situation der Ausgestoßene’.“

Durchgehende Lernprogramme, in denen Schüler die ganzen Ferien über an den Defiziten arbeiten, die ihre Lernstörung verursacht hat, lehnt Huck kategorisch ab. Über den Heften zu sitzen und zu schwitzen, während andere baden gehen, würde den Unmut über die ungerechten Ausgangsbedingungen vergrößern und die Abstände im Wissensstand trotzdem nicht unbedingt verkleinern. Der Psychologe plädiert für ein einwöchiges Vormittagsprogramm: „Kinder sind dazu gern bereit, wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Auch in kürzerer Zeit können Fortschritte erzielt werden und die Kinder haben wichtige Erfolgserlebnisse.“

Der Grat zwischen Erholen und Nachholen

Erholen und Nachholen: Auf dem schmalen Grat zwischen beidem sicher Tritt zu fassen ist für die Familien nicht leicht. Galuschka plädiert dafür, bei einer Leseschwäche das „dialogische Vorlesen“ im Wechsel mit einem Erwachsenen möglichst spielerisch in den Ferienalltag einzubauen. „Die Kinder sollten die erworbenen Fertigkeiten ja nicht verlernen.“

Eine Gratwanderung im Schulalltag ist wiederum der angemessene Umgang mit den Schülern, die unter „Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ leiden. Der „Nachteilsausgleich“ in Form von mehr Bearbeitungszeit und milderer Anrechnung von Fehlern, den es heute glücklicherweise gibt, wird leicht zum Dorn im Auge der Mitschüler – und damit zu einem Vorwand fürs Mobbing. „Damit er nicht als ungerechter Vorteil empfunden wird und erst recht zur Stigmatisierung führt, müssen Lehrer viel Aufklärungsarbeit leisten“, sagt Galuschka.

„Mobbing braucht allerdings keinen besonderen Grund, jedes Charakteristikum eines Menschen kann als Aufhänger dienen“, gibt Huck zu bedenken. Und es ist ein Phänomen, das im Dunkeln blüht. „Es kommt nur dann in Schwung, wenn es unentdeckt bleibt. Deshalb müssen Verstöße gegen soziale Regeln unbedingt aufgedeckt werden und Konsequenzen haben.“ Programme, an denen die Schulen sich orientieren können, gibt es. Sie anzuwenden ist im Interesse aller Kinder.

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