zum Hauptinhalt
Doktorhut auf dem Kopf - und was drin? Der Ruf von Geisteswissenschaftler leidet unter dem oft nur Unkonkreten, das sie hervorbringen.

© picture-alliance / gms

Geisteswissenschaften: Warum die dauernde Kritik an Germanistik nervt

Was können die denn schon, außer ein Buch lesen? Auf Germanisten rumhacken ist beliebt - aber falsch. Denn von ihnen kommt das Grundlegende: das Denken an sich. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Torsten Hampel

Als die Technische Universität Berlin 1946 auf den Trümmern ihrer Vorgängerinstitution – hier wurde im Auftrag der Nazis an Waffen geforscht – gegründet wurde, bekam sie einen neuen Bildungsauftrag. Unter der Regie der britischen Besatzungsmacht hatte sie fortan auch die Geisteswissenschaften auf dem Lehrplan. Ingenieurstudenten und Naturwissenschaftler sollten über den Tellerrand schauen und durch diese neue nicht-technische Fachrichtung in ihrer Mitte daran erinnert werden, dass ihre Arbeit nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern Folgen hat.

In den 70 seither vergangenen Jahren sind dann aber vor allem diese Geisteswissenschaften ins Gerede gekommen. Und zwar immer schärfer im Ton, je mehr die Gesellschaft sich darauf zu einigen schien, dass der Wert von Wissen sich an den damit zu erzielenden Finanzen festmachen lasse.

Was früher in Aufsätzen in Bibliotheken stand, steht heute online, also für jedermann sichtbar: Im Februar wieder in einem Artikel im „Spiegel“. Diesmal waren die Germanisten dran. Die Überschrift lautete: „Wer war Goethe? Keine Ahnung, irgendso’n Toter“. Repliken aus Germanistikprofessorenfedern fanden sich bald darauf. Deren Tenor: Alles Unfug, wir, die Geisteswissenschaften, und die, die sich dafür interessieren, sind wichtig, weil wir Kompetenzen vermitteln. Weil wir Denken lehren. Und was soll ein Leben sein, in dem nicht gedacht wird? Sind es nicht die Gedanken, die Menschen überhaupt erst zu Menschen machen? Was ist gegen einen wichtigen und richtigen Gedanken schon der Konstruktionsplan für einen Staubsauger?

Im "Spiegel" schimpft der Vize-Chefredakteur - selbst ein Germanist

Es ist ein Irrweg, alles nur am Geld festzumachen. Was heutzutage oft wehmütig „Bildung“ genannt wird, ist zuvorderst nicht das Wissen um die Funktionsweise eines Ottomotors. Es ist eben doch das Wissen um Goethe & Co., um die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge. Warum also wird in schöner Regelmäßigkeit auf den Geisteswissenschaften herumgehackt, im „Spiegel“ sogar von einem Autor, der in Tübingen – was wohl? – Germanistik studiert hat und damit immerhin stellvertretender Chefredakteur wurde?

Warum nimmt man sich nicht einmal die Tiefbauingenieure vor? Jene gut verdienenden Fachkräfte, die Ostdeutschland vor ein paar Jahren all die schönen neuen Autobahnen beschert haben? Autobahnen, die heute schon wieder umgepflügt werden müssen, weil sie vom „Betonkrebs“ befallen sind.

Warum nicht die Verwaltungsexperten, die sich zur Wahrung ihrer eigenen Legitimation ein undurchschaubar großes Vorschriftensystem geschaffen haben? Die Volkswirtschaftler, die sich bis heute auf keine Antwort auf die einfache Frage einigen können, ob ein Staat in einer Wirtschaftskrise Geld ausgeben oder Geld sparen soll?

80 000 junge Menschen studieren das Fach Germanistik an den deutschen Universitäten derzeit. 80 000, von denen aller Erfahrung nach nur ein Bruchteil später den Beruf des Germanisten ausüben wird. Der große Rest muss sich nach dem Studienabschluss etwas anderes suchen, was in Teilen der Bevölkerung offenbar zu dem Schluss führt, deren Jahre an der Uni seien vergeudet gewesen.

Sie denken nicht in Tabellen oder Gesetzen, sie denken überhaupt erstmal

Der regelmäßig infrage gestellte Ruf der Geisteswissenschaften scheint daher zu rühren, dass sie vergleichsweise wenig Konkretes anzubieten haben. Germanisten bauen keine Straßen. Gute Geisteswissenschaftler sind aber in der Lage, ganze Gesellschaften mit Abstand zu betrachten, aus einer Hubschrauberperspektive gewissermaßen. Sie haben das große Ganze im Blick, sie beobachten und beschreiben es, auf dass alle anderen besser verstehen, was hier unten gerade vor sich geht. Sie finden Worte, und sie leihen sie allen anderen, damit die sich wiederum auch Gehör verschaffen können. Sie denken anders, nicht in Schemen, Tabellen oder Gesetzen, beziehungsweise: Sie denken überhaupt erst einmal.

Drei Verteidiger haben in der „FAZ“ auf den „Spiegel“-Text über ihre Germanistik unter anderem erwidert: „Sie vermittelt überdies, geschult an literarischen Texten, eine Vielfalt an kulturellen Kompetenzen, die heute wichtiger denn je sind. Sie kann den Blick für Fiktionalisierungen öffnen, auf die wir nicht nur in der Kunst, sondern vielleicht verstärkt auch in der politischen Wirklichkeit treffen.“

Handfester wird es nicht. Muss es auch nicht, denn das Windelweiche, das dauernde Abwägen, das Sowohl-als-auch und Ja-aber ist Teil ihres Wesens. Die Geisteswissenschaft ist damit oft genauer an der Wirklichkeit als die Grundlagenforschung der Physik, die so etwas Substanzielles wie Materie noch längst nicht enträtselt hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false