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Im Experiment kamen gehende auf Kollisionskurs mit rechnenden Fußgängern.

© Hisashi Murakami, Kyoto Institute of Technology; The University of Tokyo

Fußgänger auf Kollisionskurs: Forscher zeigen, wie Smartphones den Fußverkehr bremsen

Wer aufs Handy guckt, verhält sich seltsam auf dem Bürgersteig. Das kann viele andere aus dem Takt bringen, sogar gefährlich werden.

Menschen widmen ihren Handys viel Aufmerksamkeit und manchmal vergessen sie dabei, was um sie herum passiert: am Esstisch, wo die Unterhaltung erstirbt oder sogar am Autosteuer, wo die Aufmerksamkeit sinkt und es dadurch zu schweren Unfällen kommt.

Auch auf dem Bürgersteig können Smartphone-Gucker nerven. Sie ändern ihr Tempo oder laufen unvorhersehbar mal nach links mal, nach rechts und halten so den Betrieb auf.

Wie groß die Bremswirkung der Handymenschen auf die Fußgängerschaft ist, haben jetzt japanische Forscher ermittelt. Im Fachmagazin „Science Advances“ liefern sie neben den Messdaten auch eine Erklärung, wie es zu dem Phänomen kommt.

Sie fordern, dies bei Planungen für Fußwege stärker zu berücksichtigen. Denn die Zahl der Menschen, die auf Bildschirme schauen und drauf herumwischen, dürfte weiter steigen. Was weitere Staus, zähflüssigen Fußverkehr und abrupte Ausweichmanöver provoziert.

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Selbstorganisation auf dem Bürgersteig

Hisashi Murakami von der Universität Tokio und sein Team erforschen eigentlich die Selbstorganisation von Menschenmengen. Die lässt sich beispielsweise an Zugängen zu Bahnsteigen beobachten: Obwohl sich die Personen untereinander nicht kennen und nicht miteinander sprechen, erscheint ihre Bewegung oft geordnet und aufeinander abgestimmt. Sie gehen jeweils rechts, die Langsamen an der Seite, die Schnellen in der Mitte, die eine springt in eine Lücke, der andere ahnt eine Kollision voraus und tritt vorsorglich zur Seite.

Wenn da nur ein paar Leute sind, die sich mit ihrem Handy befassen, kommt der Fluss ins Stocken. Das zeigen die Experimente von Murakami und Kollegen. Sie schickten zwei Gruppen von je 27 Probanden – versehen mit roten beziehungsweise gelben Mützen – einen drei Meter breiten Korridor entlang, in entgegengesetzter Richtung. Wie beim Bahnsteig-Beispiel geschildert, organisierte sich die Menge.

Es bildeten sich mehrere Richtungsspuren und die 54 Menschen kamen zügig auf die andere Seite, wie die Videoanalyse aus der Vogelperspektive zeigt. Dann wählten die Forscher je drei Personen in einer Gruppe aus und gaben ihnen Rechenaufgaben, die auf dem Handy-Bildschirm zu lösen waren. Aus früheren Studien war bekannt, dass derart abgelenkte Testpersonen seltener und kürzer ihre Umgebung beobachten, und vermutlich das selbstorganisierende System ziemlich stressen würden.

Kurzfristige und abrupte Ausweichmanöver

So kam es. Die Störer wurden mal vorn, mal in der Mitte, mal am Ende positioniert und je zwölf Durchgänge gemacht. Am größten war die Wirkung als die Handy-Probanden vorn liefen, berichten die Wissenschaftler. Sie bremsten die gesamte Menschenmenge am stärksten ab und es dauerte am längsten, bis sich die Richtungsspuren ausbildeten, die für guten Verkehrsfluss sorgen.

Dass es den Handynutzern schwer fallen würde, sich elegant im Menschenstrom zu bewegen, war vorhersehbar. Wer aufs Display schaut, dem fehlen optische Bezugspunkte für seinen Weg. Ohne diese ist es schwer, geradlinig zu gehen und drohende Zusammenstöße werden erst spät erkannt. Dementsprechend häufig beobachteten Murakami und Kollegen kurzfristige und abrupte Ausweichmanöver der Handynutzer. Diese stellten sie unerwartet aber auch bei den nicht abgelenkten Probanden fest, obwohl diese die Umgebung ständig sahen. „Offenbar funktionierte ihr System, das Verhalten des Gegenübers vorauszuahnen, und sich darauf einzustellen, nicht immer gut“, mutmaßen die Autoren.

Ihr Fazit: Abgelenkte Personen behindern den „Fluss“ von Fußgängern und damit die Kapazität solcher Wege beträchtlich. „Solange immer mehr Menschen während des Laufens auf ihr Telefon schauen, könnte es nötig sein, dies bei der Planung von Wegen zu berücksichtigen und neue Design-Richtlinien zu entwickeln“, folgert das Team.

Das Handy-Schauen kann zu schlimmen Unfällen führen, nicht nur beim Autofahren, sondern auch wenn Fußgänger unaufmerksam durch die Gegend laufen. „Ein Beispiel sind Straßenbahnen. Sie werden immer leiser und damit gefährlich für Menschen, die durchs Smartphone abgelenkt sind“, sagt Meike Jipp, Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin. „Einige Städte haben inzwischen Warnschilder angebracht, auf dem Boden, damit sie gerade für Handynutzer wahrnehmbar sind.“

Aber es sind nicht nur die Trams. Schon beim Überqueren der Straße kommen diese Menschen häufiger in kritische Situationen als aufmerksame Fußgänger, zeigt etwa eine Studie mit Videoanalysen in Melbourne. Weitere Untersuchungen belegen, dass Fußgänger und ebenso Radfahrer ein erhöhtes Unfallrisiko haben, wenn sie ihr Telefon benutzen.

Was lässt sich tun, um den Verlockungen des Geräts zu widerstehen? Honolulu hat bereits 2017 ein Gesetz eingeführt, nach dem Passanten bis zu 30 Dollar Strafe zahlen müssen, wenn sie aufs Smartphone sehen und gleichzeitig die Straßenseite wechseln. Es bestehen aber noch weitere Möglichkeiten, wie die Verkehrsforscherin Jipp erläutert. „Es gibt Apps, die beispielsweise erkennen, ob eine Person im Auto sitzt und dann vor der Benutzung des Telefons warnen.“ Andere Apps, die zum „Digital-Fasten“ anregen, honorieren es, wenn die Nutzer eine gewisse Zeit das Telefon nicht benutzen. Wer diese Bonuspunkte sammeln will, dem fällt es auf dem Weg zur S-Bahn vermutlich leichter als auf dem Sofa.

Für den Fußverkehr sei außerdem eine Funktion denkbar, die die geografische Position erkennt und warnt, etwa an einer Straßenbahnschiene. „Hier sehe ich aber zwei Probleme“, sagt die Forscherin. „Wenn es mehrmals Fehlalarm gibt, nehmen Nutzer die Warnung nicht mehr ernst.“ Außerdem müsste die App das richtige Verhalten provozieren. „Man stelle sich vor, die Person bleibt aufgrund der Warnung erschrocken stehen, mitten auf der Schiene, anstatt rasch weiterzugehen.“ Schilder am Boden sind aus ihrer Sicht die bessere Wahl.

„Mittleres Ablenkungsniveau“

Wo im Stadtgebiet diese am dringendsten gebraucht werden, lässt sich durch Simulationen ermitteln. Das virtuelle Hin und Her der verschiedenen Verkehrsteilnehmer hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Anfangs waren es vor allem Autos, deren Fluss auf Hauptstraßen nachgeahmt wurde. „Mittlerweile sind die Modelle und die Rechentechnik so gut, dass auch der öffentliche Personennahverkehr sowie Radfahrer und Fußgänger und deren Verhalten adäquat abgebildet werden können“, sagt Kai Nagel, Professor für Verkehrssystemplanung an der TU Berlin. Selbst die genannten Effekte der Handynutzung ließen sich berücksichtigen, die Modellrechnungen enthalten ein „mittleres Ablenkungsniveau“.

Entscheidend sei, dass diese komplexen Modelle auch in der Praxis angewendet werden. „Fußgängerinfrastruktur ist vergleichsweise billig“, sagt Nagel. „Da wird es oft für nicht nötig erachtet, Simulationen zu erstellen wie sie etwa für Bundesstraßen üblich sind.“ Das müsse sich ändern, sagt der Forscher. „Für eine vernünftige Stadtplanung ist es unerlässlich, Modelle anzuwenden, die alle Verkehrsteilnehmer berücksichtigen.“

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