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Beginn der Elfmeter-Psychologie: Liverpools Torwart Jerzy Dudek hält den Elfmeter von Mailands Andrij Schewtschenko im Champions-League-Finale 2005 in Istanbul. Vorher hatte er den Schützen mit seinem "Dudek-Tanz" verunsichert.

© EPA/KERIM OKTEN

Fußballforschung: Der Tanz des Torwarts beim Elfmeter

Hampelmänner, Spicker, Ausgucker: Strafstöße sind vor allem Kopfsache. Wissenschaftler erforschen die Psychologie des Elfmeters. Wer sie beherrscht, gewinnt.

Es ist wieder K.-o.-Runde bei der Männer-Fußball-WM, Showdown-Zeit am Elfmeterpunkt. Seit 1976 wird so nach unentschiedenen 120 Minuten – statt per Losentscheid oder Wiederholungsspiel – der Sieger ermittelt. Es war eine Revolution, die seither auch zuverlässig Helden und tragische Helden hervorbringt. Doch die wirkliche Revolution am "Punkt" ließ noch knapp 30 Jahr auf sich warten. Sie hatte mit Schusstechnik oder Sprungkraft wenig zu tun, sondern mit Psychologie.

Es geschieht im Finale der Champions-League in Istanbul am 25. Mai 2005. 70.000 Zuschauer. FC Liverpool gegen AC Mailand. Die Italiener liegen zur Halbzeit 3:0 vorn. Am Ende aber steht es 3:3, auch nach Verlängerung. Elfmeterschießen. Ein besonderes Elfmeterschießen.

Als Serginho für Mailand als erster antritt, hüpft der Pole Jerzy Dudek im Liverpooler Tor wie ein Hampelmann auf der Linie herum, wedelt mit den Armen auf und ab, zwei Schritte nach links, zwei nach rechts, ein Tippeln auf der Stelle, dann schnellen die Arme wieder nach oben. Serginho jagt den Ball über den Kasten. Das gleiche Spielchen beim nächsten Mailänder Schützen, dem Superstar Andrea Pirlo. Diesmal macht Dudek zusätzlich Kniebeugen.

Pirlo schießt nach links unten, Dudek hält. Und auch den fünften Elfmeter von Andrij Schewtschenko fängt Dudek nach einer ebenso gekonnten wie geplanten Tanzeinlage. Liverpool gewinnt die Champions League, der "Dudek-Tanz" geht in die Geschichte ein.

"Dudek war der erste, der das konventionelle Torhüterverhalten bewusst und konsequent durchbrochen hat", sagt der Berliner Fußballpsychologe Georg Froese. Statt nur zu reagieren, nahm Dudek das Heft in die Hand und irritierte die Schützen mit seinen Einlagen.

Wissenschaftler lieben Elfmeter – sie sind standardisiert

Im psychologischen Bereich lägen "im modernen Fußball mit seinen durchtrainierten Spielern und ausgeklügelten Strategien noch die letzten Potenziale, eine Mannschaft deutlich zu verbessern", sagt Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Sporthochschule Köln. Der Elfmeter ist der Inbegriff des Psycho-Duells im Fußball. Forscher lieben ihn, weil er unter standardisierten Bedingungen stattfindet. "Dadurch bietet er ein ideales psychologisches Forschungsobjekt", sagt Memmert.

Der Dudek-Tanz ist nur eine besonders auffällige von vielen Möglichkeiten des Torwarts, seine Chancen zu verbessern. Der "Jens-Lehmann-Spickzettel" ist eine andere: Bei der WM 2006 im Viertelfinale gegen Argentinien zog ihn der deutsche Keeper im Elfmeterschießen vor jedem Schuss aus dem Stutzen. Darauf standen Hinweise von Torwarttrainer Köpke, welcher Gegenspieler welche Ecke bevorzugt. Er scheint die Schützen aber vor allem verunsichert zu haben. Lehmann hielt zweimal, Deutschland war im Halbfinale.

Vier von fünf Schützen wählen die Ecke schon vor dem Anlauf

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elfmeter zum Tor führt, liegt bei rund 75 Prozent – das ist die Trefferquote im professionellen Fußball. Der Schütze steht also immer unter Druck, weil die Statistik für ihn spricht. Der Torwart muss dagegen beim Elfmeter eigentlich keine Angst haben. Er hat die Chance, zum Helden zu werden. Der Stress schießt mit. Schüsse, die den Sieg bedeuten können, landen denn auch zu 17 Prozent häufiger im Netz als weniger wichtige. Solche, die das Aus bedeuten können, werden zu 45 Prozent häufiger verschossen.

Die Richtung von Ball und Torhüter-Bewegung ist ebenfalls mehr Psychologie als Mechanik. Denn die nicht einmal halbe Sekunde, die das Spielgerät bis zur Torlinie unterwegs ist, reicht für Reaktion und Sprung gar nicht aus. Der Torhüter muss seine Bewegung vor der Ballberührung am Punkt schon eingeleitet haben. Deshalb gibt es für Schützen zwei verschiedene Strategien. Die meisten, rund 80 Prozent, wählen die Schussrichtung im Vorhinein. Allerdings schießen Rechtsfüßer eher von sich aus gesehen nach links, und Linksfüßer umgekehrt, weil dies biomechanisch naheliegender ist. Die wenigsten schießen in die Mitte oder hoch unter die Latte. Die andere Strategie ist, den Torwart "auszugucken". Das bedeutet anlaufen, beobachten, in welche Ecke der Torwart sich bewegt, und wenn es gut geht, dann gemütlich in die andere schieben. Das erfordert ein Können, die Technik millisekundenschnell zu ändern. Vor allem Spieler, "die auch sonst durch gute Spielübersicht und Stressresistenz bestechen", seien dazu in der Lage, sagt Froese.

Körperhaltung, Anlauf, Fußstellung: Alles Hinweise für den Keeper

Die Evolution des Elfers hat bei Torhütern aber auch dazu geführt, dass sie den Ausguckern mit einer Gegenstrategie antworten. Was früher nur die Schützen taten, machen nun auch sie: Sie täuschen an, etwa mit einem Ausfallschritt in eine Ecke, um dann doch in die andere zu springen. Rudi Kargus, HSV-Legende, tat dies oft sogar doppelt, also nach links und rechts – obwohl dies damals gegen die Regeln verstieß. Auch einfach Stehenbleiben kann erfolgreich sein. Jens Lehmann irritierte so im WM-Achtelfinale 2006 den Ausgucker Henrik Larsson derart, dass der Schwede über das Tor schoss.

Gegen Schützen, die unabhängig vom Torwartverhalten schießen, hilft Beobachtung: Körperhaltung direkt vor dem Schuss – etwa eine Neigung zur einen oder anderen Seite, Anlaufrichtung oder Stellung der Füße – all das kann schnell reagierenden Torhütern Hinweise auf die Schussrichtung geben. Petr Čech, damals beim FC Chelsea, habe sich "für das Champions-League Finale gegen Bayern in München 2012 akribisch vorbereitet", sagt Froese. "Er hat 13 verschiedene Hinweisreize von jedem möglichen Schützen erarbeitet und analysiert." Tatsächlich war Čech dann beim Foul-Elfmeter von Arjen Robben und im späteren Elfmeterschießen immer in der richtigen Ecke. Auch Schweinsteigers entscheidenden Schuss lenkte er gegen den Pfosten und vermasselte das "Finale dahoam".

Eine weitere Möglichkeit für den Keeper sind etwas subtilere Arten, den Schützen zu irritieren, jenseits von Tanz und Zettelstudium: "Ein Trick, den wir aktuell untersuchen, ist die Verschiebung auf der Linie", sagt Memmert. Hier bietet der Torhüter eine Ecke an, indem er einen Schritt nach rechts oder links macht und so offensichtlich eine Seite des Tors öffnet. Doch es gibt Hinweise, dass der Torhüter den Schützen auch manipulieren kann, ohne dass dieser es merkt: "Wenn er sich um maximal zehn Zentimeter vom Mittelpunkt der Linie entfernt, nimmt der Schütze die offenere Ecke nur unbewusst wahr und schießt zu 80 Prozent in diese Ecke – obwohl er nachher beteuert, der Torwart habe genau in der Mitte gestanden." Ein Torwart kann dem Schützen also auf diese unterschwellige Art eine Seite anbieten, "am besten diejenige, die dieser ohnehin bevorzugt", rät Memmert. Der Schütze hätte auch, anders als bei den meisten anderen Strategien, kaum eine Chance, die Manipulation zu bemerken und es sich deshalb anders zu überlegen. "Das hat noch keine Studie genau untersucht", sagt Memmert, "wäre aber mein Tipp."

Wer selbstbewusst auftritt, hat öfter Erfolg

Jenseits aller Täusch-Zentimeter und Irritier-Tänze gilt beim Elfmeter aber auch eine ganz allgemeine psychologische Regel: die von der Macht des selbstbewussten Auftretens und der offensiven Körpersprache. Das gilt für Torhüter wie für Feldspieler, beim Elfmeter wie im Spiel generell. "Es ist klar nachweisbar, dass die Körperhaltung im Fußball einen Effekt auf die Leistung hat", sagt Memmert, eine Studie zeige sogar, dass dies schon für das Einlaufen ins Stadion gelte.

Beim Elfmeter haben große, robuste Torhüter wahrscheinlich einen Vorteil. Der Russe Lew Jaschin etwa – Welttorhüter des Jahrhunderts – beeindruckte durch seine Erscheinung: 1,89 Meter groß, trat er immer ganz in Schwarz an und wurde respektvoll "Schwarze Spinne" genannt. Der sehr selbstbewusste Jaschin war nicht nur im Strafraum, sondern auf dem ganzen Feld der uneingeschränkte Chef. Er soll in seiner Laufbahn 150 Elfmeter gehalten haben – so viele wie kein anderer.

Welche Rolle sein Können und welche sein Status dabei gespielt haben, wird man nie erfahren. Doch dass klar kommuniziertes Selbstbewusstsein auch beim Elfmeter hilft, gilt als sicher: "Der Glaube an sich selbst erhöht die Erfolgsaussichten enorm, sowohl beim Keeper als auch beim Schützen", sagt der Sportpsychologe Jens Heuer aus Münster. Diesen Glauben solle man "durch positive Körpersprache zeigen“. Eine Studie aus Norwegen habe ergeben, dass Elfmeter-Schützen, die den Blickkontakt mit dem Torhüter scheuen und schnell ausführen, häufiger scheitern als solche, die sich Zeit nehmen. Auch sollte sich der Schütze nicht vom Torwart abwenden, sondern rückwärts gehen. Und wenn er trifft, unbedingt ausgiebig jubeln: "Jubel scheint die nächsten Schützen zu beeinflussen, sowohl die gegnerischen als auch die eigenen", sagt Memmert. Die Wahrscheinlichkeit eines gegnerischen Treffers sinke nach Jubel um sieben Prozent, die für einen Treffer des Mitspielers "steigt um sieben Prozent".

Würdiger Nachfolger von Lew Jaschin: Der russische Torwart Igor Akinfeev hält den entscheidenden Strafstoß von Spaniens Koke im Achtelfinale der WM in Russland.
Würdiger Nachfolger von Lew Jaschin: Der russische Torwart Igor Akinfeev hält den entscheidenden Strafstoß von Spaniens Koke im Achtelfinale der WM in Russland.

© AFP/Mladen Antonov

Bei der WM in Brasilien nutzte Van Gaal die Elfer-Psychologie

Bis vor kurzem beachteten die meisten Vereine und Verbände solche wissenschaftlichen Erkenntnisse wenig. Durch die neue, jüngere Trainergeneration hat aber in den letzten Jahren auch im Spezialfach Elfmeter ein Wandel eingesetzt. Mehr Datenanalyse, mehr Video-Bewegungsanalyse, mehr Fußballwissenschaft. Georg Froese etwa hat schon für Bundesligisten wie Borussia Dortmund und FC Augsburg in Sachen Elfmeter gearbeitet.

Aber alten Trainer-Hasen – oder -Füchsen – gelingt auch ohne Wissenschaft immer wieder ein Coup. Als genialer Schachzug gilt etwa eine Entscheidung des Holländers Louis van Gaal bei der WM in Brasilien vor vier Jahren. Für das Elfmeterschießen gegen Chile wechselte er den zweiten Torhüter Tim Krul ein. Er war größer als die Nummer eins Jasper Cillessen und als guter Elfmeter-Torwart bekannt. Noch dazu irritierte er die Schützen mit vielerlei Mätzchen.

Am Ende hielt er zwei Elfer und brachte die Niederlande ins Halbfinale. Beim abermaligen Elfmeterschießen gegen Argentinien konnte van Gaal nicht mehr wechseln – seine Mannschaft verlor. Ob Cillessen dann deshalb nicht finalreif hielt, weil sein Trainer ihm im Spiel zuvor die Elfmeterkompetenz abgesprochen hatte, wird man trotz aller Penalty-Psychologie-Studien niemals erfahren. So bleibt trotz aller Daten und Statistiken zumindest ein kleiner Zauber, und die Möglichkeit für Überraschungen, erhalten.

Manchmal aber ist die Statistik wirklich überzeugend: "Vielleicht hätte Deutschland das erste Elfmeterschießen 1976 gegen Tschechien ebenfalls gewonnen, wenn Helmut Schön Rudi Kargus eingewechselt hätte", sagt Georg Froese. Im Tor stand damals kein Geringerer als Weltmeister und Weltpokalsieger Sepp Maier. Doch Schön konnte nicht wechseln, und das nicht, weil er damit eine Ikone gestürzt hätte. Er hatte schlicht bereits zwei neue Spieler gebracht, mehr war damals nicht erlaubt.

Hätte er es gedurft und getan, wären die Chancen aber deutlich gestiegen. Denn während Kargus die Elfmeterstatistik der deutschen Bundesliga unangefochten anführt, steht Maier auf Platz 342 von 347.

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