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Rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nur rudimentär lesen und schreiben.

© dpa

Funktionale Analphabeten in Deutschland: 7,5 Millionen Menschen können nicht richtig lesen und schreiben

Viele sind zur Schule gegangen, haben einen Job - und sind dennoch funktionale Analphabeten. Ihnen wollen Bund und Länder jetzt in einer "Dekade der Grundbildung" helfen.

Den eigenen Kindern eine kleine Geschichte vorlesen, Mails mit knappen Arbeitsanweisungen oder gar nur eine Speisekarte verstehen: Für viele Menschen in Deutschland stellt bereits das eine Hürde dar. Rund 7,5 Millionen Deutsche sind sogenannte funktionale Analphabeten. Sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, zusammenhängende Texte aber nur sehr schwer erfassen. Rund 2,5 Millionen sind sogar Analphabeten im engeren Sinne – die zwar einzelne Wörter schreiben, aber ganze Sätze weder lesen noch schreiben können.

Diese Zahlen sind seit Jahren bekannt, sie wurden in einer Studie der Uni Hamburg 2011 veröffentlicht. Seit 2012 gibt es eine Nationale Strategie gegen Analphabetisierung. Schon in ihrem Koalitionsvertrag verständigten sich Union und SPD darauf, den Kampf gegen Analphabetismus weiter zu stärken. Im vergangenen Jahr hatten Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und die Kultusminister daher eine „Dekade der Alphabetisierung“ angekündigt und erste Projekte aufgelegt.

Nun wurde die Dekade am Montag endlich offiziell gestartet. 180 Millionen Euro sollen in den kommenden zehn Jahren ausgegeben werden, um Lese- und Schreibkompetenzen sowie das Grundbildungsniveau Erwachsener in Deutschland anzuheben. „Die individuelle Selbstverwirklichung ist maßgeblich davon abhängig, dass die Kulturtechniken Lesen und Schreiben beherrscht werden“, erklärte Wanka. Wer nicht richtig lesen und schreiben könne, habe nicht nur selber Nachteile. Es habe auch Auswirkungen auf die Kinder der Betroffenen.

Woran liegt es, dass selbst in Deutschland so viele nicht lesen und schreiben können? Gründe gibt es viele. Manchmal sind es schwierige Familien- oder Lebenssituationen, wegen derer Kinder nicht regelmäßig in die Schule gingen und deren Lernschwierigkeiten nicht diagnostiziert wurden. Analphabetismus gilt oft als Tabu. Daher wird davon ausgegangen, dass Betroffene Situationen vermeiden, in denen sie mit Schriftsprache konfrontiert werden. So kaschieren sie, dass sie nicht lesen und schreiben können.

Eine Studie der Stiftung Lesen ergab hingegen vor zwei Jahren, dass in Betrieben oft sehr wohl von den Lese- und Schreibschwächen von Kollegen gewusst wird und diese unterstützt werden (von den funktionalen Analphabeten sind 57 Prozent erwerbstätig), Das wiederum führe aber dazu, dass nur die Symptome kuriert werden. Weil die Mitwisser denken, dass die Betroffenen gut zurecht- kommen, würde die Alphabetisierung nicht energisch genug vorangetrieben.

Jedenfalls sollen entsprechende Bildungsangebote jetzt ausgebaut werden, den Betroffenen die Angst vor Diskriminierung genommen werden. Geplant ist auch, dass Gewerkschaften gemeinsam mit Betrieben ein Konzept für den Einsatz von Lernberatern entwickeln. Das Bundesbildungsministerium hat angekündigt, jedes Jahr ein Unternehmen auszeichnen zu wollen, das sich besonders gegen Analphabetismus engagiert.

Der Berliner Senat hat im vergangenen Jahr ein Maßnahmenpaket beschlossen, mit dem Analphabeten geholfen werden soll. Bisher nehmen nur sehr wenige der geschätzt 320 000 funktionalen Analphabeten in der Stadt an Hilfsangeboten teil – und zwar nur ein Prozent der Betroffenen, hieß es, als Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) das Programm vorstellte. Tilmann Warnecke

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