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Rollsiegel aus Tell Halaf in Syrien.

© Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer

Fundstücke in Berliner Museen: Epidemien, die von den Göttern kamen

Berliner Museen entdecken ihre Seuchen-Geschichten – und nehmen Besucherinnen und Besucher digital mit auf die Reise.

Von Andreas Austilat

Der Mann hieß Stotoetis, und die Umstände, unter denen er sein Haus verließ, hat er selbst überliefert: Alle waren tot, „meine beiden Töchter mit ihren Männern, meine Frau und sehr viele andere“. Daraufhin suchte er anderswo Zuflucht. Und auch wenn es sich nicht mit letzter Gewissheit beweisen lässt, spricht alles dafür, dass eine Epidemie vor beinahe zwei Jahrtausenden seine Heimat in der ägyptischen Oase Al Faijum heimgesucht hatte, damals Teil des römischen Imperiums.

Diese Tragödie beweist einmal mehr, dass die aktuelle Krise, die Covid-19 über die Welt brachte, ihre Vorgänger hat, die weit in die Geschichte der Menschheit zurückreichen. Anlass für Marius Gerhardt, Kurator der lateinisch-griechischen Abteilung der Berliner Papyrussammlung, dem Brief des Stotoetis jetzt besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Der Papyrus, auf dem der Priester aus dem Dorf Soknopaiu Nesos dem obersten Verwalter des Bezirks sein Leid klagte, gelangte Jahrhunderte nach der Niederschrift ins Depot der Staatlichen Museen des Preußischen Kulturbesitzes, wo er in einer Blechkiste mit der Nummer 106 gelagert wurde.

Fragment aus einem Papyrus.
Fragment aus dem Papyrus des Stotoetis.

© Staatliche Museen zu Berlin – Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Foto: Berliner Papyrusdatenbank, P 21551.

Stotoetis überlebte, aber er musste nach seiner Rückkehr feststellen, dass seine Abwesenheit ausgenutzt worden war. Er schreibt weiter: „Ich fand das Haus von irgendwelchen Leuten aufgebrochen und beraubt.“ Auch vor beinahe 2000 Jahren schon brachten derartige Krisen nicht nur das Beste, sondern leider auch das Schlechteste im Menschen ans Licht, ganz so, wie Bundespräsident Steinmeier es unlängst formulierte.

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Die Berliner Sammlung mit ihren Zehntausenden Papyri ist nicht nur die umfangreichste in Deutschland, sie zählt zu den fünf größten weltweit. Die meisten ihrer Schriften gelangten schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Stadt. Welchen Weg genau der Papyrus des Stotoetis nahm, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.

Wahrscheinlich wurde er bei Grabungen gefunden, die deutsche Archäologen zwischen 1902 und 1910 auf dem Gebiet des antiken Arsinoitis, dem heutigen Faijum, unternahmen. Vielleicht wurde er seinerzeit aber auch im Kunsthandel erworben.

Der Brief ist nur fragmentarisch erhalten. Er gehört auch keineswegs zu den spektakulärsten Stücken in der Berliner Sammlung. Dieser Rang gebührt eher Texten aus der altägyptischen Literatur oder der weltweit ältesten erhaltenen Buchrolle in griechischer Sprache aus dem 4.Jahrhundert vor Christus, die auch Timotheus Dichtung „Die Perser“ enthält.

Die Sorgen des Stotoetis aus Al Faijum sind uns plötzlich nahe

Doch die private Tragödie aus der Oase Al Faijum hat ihre eigene Aktualität, öffnet für einen Spalt das Fenster in eine ferne Vergangenheit, die mit einem Schlag nicht mehr so fern wirkt, sind doch die Sorgen des Stotoetis den Zeitgenossen dieser Tage plötzlich sehr nahe. Und sie können vom heutigen Publikum auch von zu Hause aus in Augenschein genommen werden.

Seit November 2010 wurden Tausende Papyri aus der Sammlung gescannt, kommentiert und online gestellt, erklärt Kurator Marius Gerhardt, der auch einer der wissenschaftlichen Leiter der Papyrusdatenbank ist. Ein Glücksfall angesichts der Tatsache, dass die Sammlung derzeit für den normalen Betrieb geschlossen ist. Die Berliner Museen dürfen nach derzeitigem Stand ab dem 4. Mai wieder öffnen.

Der Zugang erschließt sich auch Laien, es gibt den Link „Stöbern“, in der die Datenbank nach Kategorien durchsucht werden kann. Um den Brief des Stotoetis zu finden, muss man „Epidemie“ in die Suchmaske eingeben. Zusätzlich wird regelmäßig ein „Stück des Monats“ ausführlicher vorgestellt und kommentiert.

[Lesen Sie auch den aktuellen Artikel unserer Kollegin Nicola Kuhn über die Kulturgeschichte der Masken]

Welcher Epidemie die Familie des Stotoetis zum Opfer fiel, lässt sich heute nicht mehr eingrenzen. Anders als bei vielen Papyri, die sogar tagesgenau datiert werden können, ist der Ursprung nur auf das zweite nachchristliche Jahrhundert bestimmbar. Möglich wäre aber die Antoninische Pest, die sich um 160 nach Christus vom heutigen Irak aus bis nach Britannien im gesamten Imperium ausbreitete.

Wie sich die Menschen vor 2700 Jahren mit Krankheiten auseinandersetzten

Auf dem Höhepunkt der Epidemie starben nach Berichten des antiken Chronisten Cassius Dio allein in Rom bis zu 2000 Menschen täglich – wobei es sich nach heutigen Erkenntnissen nicht um die echte Pest, sondern um die Pocken, vielleicht auch die Masern handelte. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Familie des Stotoetis bereits einer früheren Epidemie erlag. Unter Kaiser Hadrian gab es um 130 nach Christus einige regionale Ausbrüche.

Dass Seuchen die Menschen begleiten, seit sie sesshaft geworden sind, dafür gibt es in den Sammlungen der Staatlichen Museen Berlins reichlich Belege. Mit die ältesten bewahrt das Vorderasiatische Museum in seiner Keilschriftsammlung auf. Etwa 40.000 Schriftträger gibt es dort, darunter 30.000 Tontafeln.

Fragmente einer Tontafel aus Assur.
Rezepte und Beschwörung gegen starkes Fieber auf einer Tontafel aus Assur (Irak), 1. Jahrhundert v.Chr.

© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum / Olaf M. Teßmer

Berühmte Stücke der Sammlung sind die vier Fragmente des ältesten Friedensvertrags der Welt, vor mehr als 3000 Jahren zwischen Ägyptern und Hethitern geschlossen. Aktuell aber nimmt auch das Pergamonmuseum Bezug auf die gegenwärtig grassierende Pandemie und erzählt im Online-Blog der Staatlichen Museen, wie sich die Menschen vor 2700 Jahren mit Krankheiten auseinandersetzten.

Im aktuellen Blog der staatlichen Museen stellt Juliane Eule, Kuratorin der Keilschriftsammlung, verschiedene Beispiele vor, die allesamt ein Verständnis für die Plagen jener Zeit vermitteln, das heute fremd anmutet. Für die Bewohner Mesopotamiens war die Welt göttlichen Ursprungs, mithin waren die Götter auch Ursache allen Übels. Ein Mensch erkrankte, weil sich eine Gottheit von ihm abgewandt hatte oder er hatte gar göttlichen Zorn auf sich gezogen, erklärt Juliane Eule in ihrem Blog.

Rituale gingen mit Diagnostik und Rezepturen aus Pflanzen einher

Diese Weltsicht klingt heute naiv, ein Ausdruck mangelnden Wissens. Tatsächlich waren die Ansätze zur Behandlung etwa des Fiebers sehr viel vielschichtiger, wie die ausgewählten Texte belegen. Medizin und Magie waren eng miteinander verbunden, Beschwörungsformeln und dazugehörige Rituale Teil der Behandlung. Doch eben nicht allein. Sie gingen einher mit diagnostischen Beobachtungen, mit Rezepturen aus Pflanzen, von denen allein die Bezeichnungen überliefert sind. Worum es sich bei ihnen handelt, welche Wirkung sie möglicherweise hatten, ist vollkommen unbekannt.

Und so könnte beispielsweise das Reinigungsritual, bei dem der behandelnde Priester seine Hände mit einer speziellen Salbe einrieb, desinfizierende Wirkung gehabt haben, ganz so wie das heute immer wieder propagierte Händewaschen.

Für Juliane Eule jedenfalls gibt es etwa in Tontafeln aus Assur, die sich heute im Vorderasiatischen Museum Berlin befinden, durchaus Indizien, dass sich die Menschen damals der Ansteckungsgefahr, die aus körperlichen Kontakten resultiert, bewusst waren. Jedenfalls deutet ein mesopotamischer Schutzzauber darauf hin, dass die Assyrer und Babylonier zwar davon ausgingen, die Ursache einer Erkrankung sei göttlicher Zorn. Sie ahnten aber auch: Wer den göttlichen Schutz verloren hat, könnte irgendwie ansteckend sein.

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