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Feldpostkarte aus dem Jahr 1916

© www.europeana1914-1918.eu

Fotos, Briefe, Tagebücher von 1914 bis 1918: Der private Weltkrieg

Briefe, Fotos, Tagebücher: Zum Ersten Weltkrieg entsteht online ein gigantisches Archiv privater Dokumente. Ein Beispiel: Die Europeana 1914-1918. Historiker hoffen auf Einblicke in die Mentalitätsgeschichte.

An Originaldokumenten mangelt es nicht. Kaum ist das Jahr 2014 angebrochen und mit ihm der Erinnerungshype rund um den Ersten Weltkrieg, quillt das Internet förmlich über von Briefen, Fotos, Tagebüchern aus der Zeit von 1914 bis 1918. 90 000 persönliche Dokumente aus Privatbesitz haben die Mitarbeiter des europäischen Webportals www.europeana1914-1918.eu eingescannt und online gestellt. Hinzu kommen 400 000 Dokumente aus zehn europäischen Nationalbibliotheken, die nun erstmals in einem zentralen Portal zusammengeführt wurden. Aber nicht nur das Weltkriegsprojekt der Europeana setzt neue Maßstäbe, auch das britische Nationalarchiv treibt die Digitalisierung seines Bestandes voran. Gerade sind tausende Soldatentagebücher online veröffentlicht worden, weitere sollen folgen. 1,5 Millionen Seiten Papier hat das Archiv nach eigenen Angaben bereits erfasst.

Die Materialfülle, die nun im Internet verfügbar ist, könnte der wissenschaftlichen Forschung zum Ersten Weltkrieg entscheidende neue Impulse geben, sagte Sönke Neitzel jetzt auf einer Europeana-Konferenz in der Staatsbibliothek zu Berlin. Der Historiker, der an der London School of Economics lehrt, sieht vor allem bei den Themen Kriegsverbrechen, Kriegswirtschaft, Blockade und Zwangsarbeit noch großen Forschungsbedarf. Aber auch aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht seien noch viele Fragen unbeantwortet: „Warum taten Soldaten das, was sie taten? Welche Rolle spielten Politik und Propaganda, welche die nationalen und regionalen Identitäten?“ Bislang waren länderübergreifende Vergleiche nur schwer möglich. Die jetzt verfügbaren Massenquellen könnten das ändern. „Der Erste Weltkrieg war für fast alle Europäer eine traumatische Erfahrung“, sagt Neitzel. Endlich kann diese kollektive Gewalterfahrung aus tausenden Aufzeichnungen differenziert herausgearbeitet werden.

Doch noch ist das Zukunftsmusik. Denn was die „Europeana 1914-1918“ ins Netz gestellt hat, ist lediglich Rohmaterial. Da finden sich weitgehend unkommentierte Fotos, Vor- und Rückseiten von Postkarten, die verblichen sind und kaum zu entziffern, oder Notizen und Tagebücher in handschriftlichem Sütterlin. Oft gibt es nur wenige Metadaten zu den Dateien, meist speisen sie sich aus den Angaben der Angehörigen. Das Kriegstagebuch von Hans Bascher, Architekt aus dem oberbayrischen Wolfratshausen ist so ein Beispiel. Es umfasst die Zeit von 1915 bis 1918, besteht aus 85 engbeschriebenen Doppelseiten, darunter auch Tabellen, Kalendereinträge und Konstruktionszeichnungen. Aber was genau schreibt der Architekt, an welchen Fronten hat er gekämpft, welche politische Meinung vertreten, welche Schlachten wie überlebt? „Wir müssen diese Quellen einordnen“, sagt Neitzel. Und sie müssen transkribiert und verschlagwortet werden. Erst dann können die Wissensschätze, die in den Alltagsdokumenten schlummern, gehoben werden.

Der Historiker Frank Drauschke, dessen Firma „Facts & Files“ für das Projekt Europeana 1914-1918 die Sammel- und Scanaktionen betreut, sieht das ähnlich. „Wir haben ein Archiv aufgebaut und Material angehäuft, jetzt ist die Wissenschaft aufgefordert, tiefer in die Materie einzusteigen.“ Dass die systematische Transkription und Quellenanalyse allerdings über Forschungsgelder finanziert werden könnte, darüber macht er sich keine Illusionen. „Eigentlich kann man das bei dieser Menge nur crowdbasiert hinkriegen.“ Das britische Nationalarchiv hat diesen Ansatz bereits gewählt und die Bevölkerung aufgerufen, als crowd bei der Entzifferung der Tagebücher mitzuhelfen. Das wünscht sich Drauschke auch für die Europeana 1914-1918. Schon jetzt wird das Portal weiter technisch ausgebaut, damit etwa registrierte Nutzer bei der Verschlagwortung helfen oder Anmerkungen einfügen können. Einleitende Texte aber wird es auch in Zukunft auf der Webseite nicht geben. „Wir sind eine Datenbank“, sagt Drauschke, „ein Archiv für Originalquellen.“ Kein Geschichtsbuch, kein Lexikon.

Diese Lücke will ein anderes Internetprojekt schließen. Unter der Leitung von Oliver Janz, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, entsteht eine englischsprachige Online-Enzyklopädie, die im Herbst gelauncht wird. Rund 1500 Texte sollen in den kommenden Jahren auf www.1914-1918-online.net veröffentlicht werden. Sie stammen von Wissenschaftlern aus aller Welt, werden in einem Peer-Review-Verfahren geprüft und sollen die neuste internationale Forschung zum Ersten Weltkrieg präsentieren. Geplant sind längere Übersichtstexte zu Regionen und zentralen Kriegsthemen, dazu kommen kürzere Einträge zu Personen oder Ereignissen.

„Neu dabei ist, dass es sich um einen globalen Ansatz handelt“, erklärt Projektkoordinatorin Susanna Büchner. Die 90 Mitglieder des Editorial Boards kommen aus 21 Ländern, der Blickwinkel ist weder deutschland- noch europazentriert. Die Enzyklopädie will auch abbilden, was während des Ersten Weltkriegs in Afrika, Südamerika oder Asien geschah. „Bislang hat das in der Forschung keine große Rolle gespielt“, sagt Büchner. Alle Einträge des Nachschlagewerks werden frei zugänglich sein, es wird die Möglichkeit der Volltextsuche geben, außerdem sind die Lexikoneinträge semantisch miteinander verknüpft. Auch Material aus digitalen Archiven will das Team von 1914-1918-online zur Illustration einbeziehen, mit der Europeana 1914-1918 besteht bereits eine offizielle Kooperation. Schon jetzt gibt es eine kommentierte Linksammlung, die zahlreiche Archive weltweit auflistet, die digitalisierte Dokumente zum Ersten Weltkrieg veröffentlicht haben.

Erinnerungsstücke. Ein Paar aus Brandenburg brachte ein transkribiertes Kriegstagebuch zur Scanaktion in die Staatsbibliothek zu Berlin.
Erinnerungsstücke. Ein Paar aus Brandenburg brachte ein transkribiertes Kriegstagebuch zur Scanaktion in die Staatsbibliothek zu Berlin.

© Christoph Stollowsky

„Der Ball liegt jetzt im Spielfeld des Universitätssystems“, sagt Sönke Neitzel. Die sinnvolle Verzahnung der digitalen Portale, die Auswertung und Einordnung der neu gewonnenen Materialien, komparatistische Studien , die auf umfassender Quellenanalyse fußen: Das alles werden die Aufgaben künftiger Forschergenerationen sein. Doch vorab muss das Material überhaupt erst einmal systematisch erschlossen werden. Darin sieht Neitzel die größte Herausforderung. „Wie gehe ich mit Unterlagen um, die so umfangreich sind, dass ein Mensch sie in seinem ganzen Leben nicht lesen kann?“ Dass sich das brennende Interesse am Ersten Weltkrieg, das aus Neitzels Sicht eher von Medien und Verlagen als von der Fachwelt ausgegangen war, über den Jahrestag hinaus halten wird, bezweifelt der Historiker. „Ich bin da zumindest für Deutschland eher skeptisch.“ An den Geschichtslehrstühlen dominierten andere.

Nur wenige Meter entfernt, im Foyer der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße, sitzt Margot Weiß, 63, aus Tegel und ahnt von solchen Historikermoden wenig. In ihrer Familie, ein Teil davon war um 1900 nach New York ausgewandert, hinterließ der Erste Weltkrieg tiefe Spuren. Sie selbst kann die Briefe von Opa August und seinen Schwestern kaum lesen, ihre Mutter hatte ihr die Texte in den 1990er Jahren auf Band gesprochen. Die Tochter hat sie Jahre später abgetippt, hat Karteikarten angelegt, versucht zu rekonstruieren, wo das Bataillon des Großvaters unterwegs war und wie viel Kilo Mehl die Schwestern aus den USA in die Heimat schickten. Die Arbeit wuchs ihr über den Kopf. „Ich wusste nicht, wie ich das aufarbeiten sollte“, sagt Weiß. Jetzt werden die Familiendokumente Teil der Europeana 1914-1918. Verloren gehen können sie nicht mehr. Aber ob sie im Netz neue Rezipienten finden werden? Margot Weiß würde es sich wünschen.

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