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Forschung: Höhenangst: Das Wohnhaus wird zum Wolkenkratzer

Ist die Ursache der Höhenangst gefunden? Statt einer krankhaft übersteigerten Art von Furcht könnte es sich um ständige Fehler des Gehirns bei der Einschätzung von Distanzen handeln.

Eine hohe Leiter hinaufklettern, von einer Aussichtsplattform blicken oder über eine hohe Brücke laufen – für viele Menschen ist das ein Problem. Sie bekommen Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindelgefühle und werden mitunter sogar von Panikattacken befallen. Diese Symptome sind typisch für Höhenangst oder „Akrophobie“, wie Fachleute sagen. Nach herkömmlicher Auffassung handelt es sich bei der Akrophobie um eine irrationale, krankhaft übersteigerte Art von Furcht. Doch jetzt gibt es eine alternative Erklärung. Demnach kommt es nur dann zu Höhenangst, wenn dem Gehirn bei der Beurteilung von Distanzen ständig Fehler unterlaufen. Das schreibt Russell E. Jackson von der Universität im kalifornischen San Marcos im Fachjournal „Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences“.

Der Kognitionspsychologe stützt seine These auf Experimente, bei denen 43 Studenten seiner Uni teilnahmen. In Voruntersuchungen wurde zunächst ermittelt, welche Probanden unter Höhenangst litten, durch welche alltäglichen Situationen sie ausgelöst wurde und als wie intensiv sie jeweils empfunden wurde. Danach wurde jeder Einzelne gebeten, die Höhe eines 14,4 Meter aufragenden, fünfstöckigen Parkhauses so exakt wie möglich zu schätzen – und zwar das eine Mal vom Dach des Gebäudes aus, das andere Mal vom Erdgeschoss aus.

Zunächst zeigte sich, dass sich Menschen generell schwer damit tun, vertikale Distanzen einigermaßen genau abzuschätzen: Bis auf eine Versuchsperson überschätzten alle anderen die Höhe des Parkhauses – wobei nicht entscheidend war, ob sie oben oder unten gestanden hatten. Wie nicht anders zu erwarten, kam allen Probanden das Gebäude dann ein Stück höher vor, wenn sie vom Dach aus nach unten blickten. Allerdings zeigte sich ein bemerkenswerter Unterschied: Diejenigen, die am meisten unter Höhenangst litten, empfanden das Gebäude aus der Froschperspektive um durchschnittlich drei Meter, aus der Vogelperspektive sogar um 12 Meter höher als diejenigen, die erklärt hatten, ganz oder weitgehend schwindelfrei zu sein.

Jackson schließt daraus, dass die Akrophobie zu Unrecht als psychische Störung aufgefasst wird. In Wahrheit hätten die von Höhenangst Geplagten ein anderes Problem: Sie können vertikale Distanzen nur verzerrt wahrnehmen. „Akrophobiker, denen ein 14-Meter-Turm wie ein 50 Meter hoher erscheint, reagieren darauf genauso wie Menschen ohne jede Höhenangst es tun würden, wenn sie tatsächlich einen 50-Meter-Turm bestiegen hätten“, erläutert der Forscher.

Wie diese Fehlwahrnehmungen zustande kommen, kann Jackson allerdings noch nicht erklären. Nicht auszuschließen, dass sich auch seine Theorie als falsch erweisen wird. Seine experimentellen Befunde sprechen aber dafür, dass es bei der Behandlung von Akrophobie helfen könnte, die Wahrnehmung von Distanzen zu trainieren. Immerhin ist seit längerem bekannt, dass es bisweilen genügt, einige Fallschirmsprünge zu absolvieren, um seine Höhenangst ein für alle Mal zu verlieren. Frank Ufen

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